Jakobsweg & Vorwort

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1. Jakobsweg- persönliches Vorwort
2. Jakobsweg - Geschichte und Hintergrund
3. Initiation und Visionssuche

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ewgen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Novalis (1772 - 1801)

Wenn man seinen Lebensweg bewusst geht, nimmt man nicht nur Sackgassen, sondern vor allem Neue Wege intensiv wahr.

“Der Optimist sieht in jedem Problem eine Chance;
der Pessimist sieht in jeder Chance ein Problem.”

So erfuhr ich “zufällig” 1991 auf einer längeren Studienreise durch Frankreich in Vézelay (Magdalenen-Heiligtum) erstmals vom Pilgerweg nach Santiago-de-Compostela und dem Wiederaufbau als historischen europäischen Kulturweg. Dies begann mich dann immer stärker zu faszinieren - auch, daß Pilgern heutzutage noch, bzw. wieder möglich sein sollte.
So beschäftigte ich mich in den darauf folgenden Jahren geschichtlich und spirituell intensiv auch mit diesem Thema.

Aber es sollten neun Jahre vergehen, bis ich diesen immer stärker werdenden Wunsch, wirklich zu pilgern, realisieren konnte.
Im Jahre 1999 war ich nach zehn Jahren selbständig als Freischaffender Bildender Künstler völlig “ausgepowert” und hatte nur noch einen Wunsch: Ruhe!, d.h. “nichts mehr um die Ohren haben.”

“Am reichsten sind die Menschen, die auf das meiste verzichten können.” Tagore

Anfang 2000 hatte ich mich dann für den Pilgerweg mit allen Konsequenzen entschieden: die letzten Ausstellungen und Aufträge durchführen, Atelier und Wohnung in Neuenburg am Rhein auflösen, bzw. einlagern, und die Pilgerwanderung, die zeitlich unbegrenzt dauern sollte, vorbereiten.

“Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht,
sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat - egal wie es ausgeht.”
(Vaclar Havel)

Mitte September 2000 -kurz vor meinem 33. Geburtstag- ging ich südlich von Basel in der Schweiz los ...
Ruhe - nur ich selbst, mein Rucksack, mein Hund und sonst Nichts. Nichts: kein Termin, kein Telefon, keine Uhrzeit, ... nichts mehr. Einfach nur laufen, sehen, riechen, schmecken, spüren... die Natur, den Weg, dieses neue Leben WAHR-nehmen.
Einfach nur laufen und sich vertrauensvoll öffnen für jeden neuen Tag, von welchem man morgens nicht wusste, was er einem an neuen -positiven wie vermeintlich negativen- Erfahrungen und Begegnungen brachte...

Hüte die Stille und du wirst von der Stille behütet.” (Deutsche Mystik)

So lief ich über 1200 Kilometer durch die Schweiz und durch Frankreich ...

“Wer einmal sich selbst gefunden hat, der kann nichts auf dieser Welt mehr verlieren.”
(Stefan Zweig)

Ende November 2000 beendete ich, überrascht von meiner inneren Eingebung spontan während der Pyrenäen-Überquerung in Roncevalles in Spanien diesen Weg.
Die Geburt meiner Tochter Sophia Magdalena bei Bamberg gab meinem Lebensweg eine völlig neue Richtung ...

“Auch das ist Kunst, ist Gottes Gabe,
aus ein paar sonnenhellen Tagen
Sich so viel Licht ins Herz zu tragen,
dass, wenn der Sommer längst verweht,
das Leuchten immer noch besteht.”
(Goethe)

Aber: Einmal Pilger - immer Pilger!

“Wir sind alle Pilger; wir wandern auf verschiedenen Wegen zum gemeinsamen Ziel.”
(Antoine de Saint-Exupéry)

Während eines indianischen Schwitzhütten-Rituals zur Wintersonnwende 2001 kam mir die deutliche Eingebung, nun in meiner neuen oberfränkischen Heimat (m)einen eigenen Pilgerweg zu alten, spirituell besonderen Orten zu suchen.
Nach halbjähriger intensiver Planung ging ich zur Sommersonnwende 2002 alleine meinen neuntägigen Pilgerweg durch Franken ...

Begeistert von den -auch in dieser verhältnismässig kurzen Zeit erfahrenen- Erlebnissen, ermunterten mich viele Freunde, offenen Menschen diesen Weg im Rahmen als geführte Gruppenwanderung anzubieten. Spontan kam dann auch bereits im August 2002 die erste Gruppe zustande. Und auch diese Wanderung war, wie später alle weiteren, unbeschreiblich positiv...

So entstand daraufhin meine
Meditative Pilgerwanderung
zu Kraftorten und Kultplätzen nördlich von Bamberg”

 

Während meiner Wanderungen im August 2007 kam mir dann der Gedanke,
auch Pilgerwanderungen auf der alten heiligen Insel Rügen sowie in den Vogesen,
welches völlig unterschiedliche, aber hochinteressante (!) Gebiete sind, zu unternehmen.

weiter zu: Informationen, Termine & Preise

 

 

 

2. Jakobsweg - Geschichte und Hintergrund:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Pilgern, vom lateinischen peregrinus abgeleitet, bedeutet so viel wie: in der Fremde sein Heil suchen, die offene Weite suchen und neue Wege finden; das Wort Wallfahrt kommt aus dem altenglischen weallian, was soviel bedeutet wie wandern oder reisen.

Pilgern zählt zu den ältesten spirituellen Übungen der Menschheit in allen Kulturen dieser Erde; Ziele waren heilige Orte, etwa Berggipfel, Höhlen, Tempel, Baumheiligtümer usw. Meist überlappt sich der christliche Weg zu Gott mit älteren Religionen und Mythen; viele der Wallfahrtsorte gründen sich auf Kraftzentren aus der Keltenzeit oder noch älteren Kulturen.

Christliche Wallfahrten begannen im 4. Jahrhundert zu Orten, die mit Jesus und seinen Jüngern in Verbindung standen; so wurden Pilgerwege zu europäischen Verkehrsadern. Im 13. Jahrhundert gab es in Europa über zehntausend Wallfahrtsorte.

 

 

Als Jakobsweg wird der Pilgerweg zum angeblichen Grab des Apostels Jakobus in Santiago de Compostela in Spanien bezeichnet.

Nach dem Einfall und Besetzung Spaniens durch moslemische Araber im 8. Jahrhundert wurde wundersamerweise Anfang des 9. Jahrhunderts das Jakobusgrab in einer römisch-suebischen Nekropole „entdeckt“ und mit Legenden ausgeschmückt, um Nordspanien halten zu können. In der Schlacht der Reconquista bei Clavijo (843) soll Jakobus hoch zu Ross mit Banner und Schwert in den Kampf eingegriffen  und die Schlacht für die Christen entschieden haben; seither wird er auch als 'Matamoros' (Maurentöter) dargestellt und mit christlicher Nächstenliebe verehrt.

Die christlichen Nachfolgereiche des untergegangenen Westgotenreiches bedurften einer Identifikationsgestalt; dabei galt Jakobus als Schutzheiliger vor allem als Legitimation für die asturische Königsdynastie. Seit Anfang des 10. Jahrhunderts wurde Nordspanien geschlossen dem christlichen Herrschaftsgebiet eingegliedert.

Die legendäre Entstehung des Jakobsweges durch Kaiser Karl den Großen schildert das vierte Buch des Liber Sancti Jacobi. Demnach habe Karl der Große auf seinem Spanienfeldzug auf Geheiß des Apostels den Weg zum Jakobusgrab von den Mauren befreit. Mit der Einbeziehung des Karlskultes in die Jakobusverehrung konnte einerseits das Interesse der deutschen und französischen Pilger geweckt werden, während andererseits Kaiser Friedrich I. Barbarossa und König Ludwig VII. von Frankreich aus der Verbindung beider Legenden politische Vorrangstellungen abzuleiten versucht haben.

 

 

Die erste Erwähnung des Jakobsweges stammt aus dem Jahre 1047, als in einer Urkunde des Hospitals von Arconada die nordspanische Hauptverkehrsachse bezeichnet wird als „Weg, der seit alten Zeiten von Pilgern des hl. Jakobus und Peter und Paul begangen“ werde.

Seit dem 11. Jahrhundert bemühten sich die Herrscher sämtlicher christlichen Reiche in Nordspanien, durch die Gewährung von Freiheitsrechten, Privilegien und Steuerbefreiungen Siedler aus Frankreich anzuziehen, um den Camino Francés mit Marktsiedlungen auszustatten. Die Bezeichnung Camino Francés, erstmals für das 12. Jahrhundert in Astorga belegt, bezieht sich auf diese Siedler. Von etwa 1050 an häufen sich Hospitalstiftungen durch Könige, Fürsten, Geistliche, Mönchs- und Ritterorden.

Unter dem Einfluss der Reconquista, der von der Abtei Cluny ausgehenden Klosterreform, der Herausbildung einer nordspanischen Städtelandschaft längs des Camino de Santiago sowie neuer Entwicklungen in der christlichen Lehre von Heil und Erlösung entwickelte sich im 11. und 12. Jahrhundert, neben Jerusalem und Rom eine der größten Pilgertraditionen des Christentums.

Das Domkapitel der Kathedrale von Santiago de Compostela hat es im Laufe des 12. Jahrhunderts verstanden, noch vor Rom und anderen Pilgerzentren die erlösungstheologischen Lehren der Frühscholastik in seine Pastoral zu integrieren. Den Menschen wurde in einer einfachen Botschaft, die alle verstanden, ein versöhnender Christus vermittelt, dessen Wirken durch die Fürsprache des heiligen Jakobus den Menschen zuteil werde. Später wurde dieses pastorale Konzept durch die Einführung von Ablässen und Heiligen Jahren nach dem Vorbild Roms untermauert.

 

 

Im 15. Jahrhundert erlebte Santiago durch die Einführung besonderer Gnadenjahre, in welchen ein vollkommener Ablass gewährt wurde, einen weiteren Aufschwung; sein Einzugsbereich reichte bis Skandinavien und Ostmitteleuropa.

Auf die Frage, wo der Jakobsweg beginne, erhält man in Spanien die Antwort: „El camino comienza en su casa“ (Der Weg beginnt in Ihrem Haus). So handelt es sich bei dem Jakobsweg primär um eine Idee; im Mittelalter löste diese Volksbewegung einen Aufbruch aus. Überall unterwegs entstanden zahlreiche Einrichtungen für die Betreuung und Begleitung der Pilger: Klöster, Stifte, Herbergen, Hospitäler, Gasthäuser und Kirchen. Für die Orte entlang der Routen bedeutete der Pilgerstrom auch wirtschaftlichen Segen.

 

 

Bis ins Mittelalter war Bewegung ein Ausdruck von Frömmigkeit, im beginnenden 17. Jahrhundert wurden Worte, Geist und Studium wichtiger.

Mit dem Abflauen der Pilgerströme vor allem angesichts von Aufklärung und Folgen der Reformation verschwanden plötzlich die heiligen Gebeine; sie wurden erst 1879 wiederentdeckt und von Papst Leo XIII. als echt anerkannt.

Seit den 1980er-jahren wird der Jakobsweg wiedergefunden, u.a. durch Coelhos Buch bekannt gemacht und mittlerweile als europäischer Kulturweg immer weiter ausgebaut, sodass er Menschen aus allen Nationen anzieht, entwickelt er sich heute auf diesem Weg auf Grundlage des (vorübergehenden) gemeinsamen Pilgerstatus in eine praktische internationale Verständigung ungeachtet der Herkunft, des Alters, des Ansehens und des Geschlechts.

 

 

Der Jakobsweg ist für viele Pilgern wie ein Raum, in welchem sie einen inneren Wandel erleben.

Politische Entscheidungen im 9. Jahrhundert und kirchliche Nutzung seither beiseite lassend sehen wir uns nun die undogmatischen spirituellen Hintergründe an, da der Jakobsweg, auch Sternen- oder Milchstraße genannt, ein Relikt aus wissenden Urzeiten ist. So ist es im Leben stets grundlegend, den Zierrat zu erkennen und beiseite lassen zu können, um an die Wurzeln, die Quintessenz zu gelangen

Pilgerschaft ist wie eine Metapher des menschlichen Lebensweges, welcher geprägt ist von „Werden-Sein-Vergehen“ – darauf deutet auch die Ost-West-Ausrichtung des Jakobsweges hin.

 

 

Der Sonnenaufgang im Osten ist das Symbol für das Werden, die Geburt und den Beginn des Lebens.

Die Ausrichtung von Ost nach West findet sich auch in den meisten Kirchen, der Chorraum ist geostet. Von dort ist das Leben: Sonne und Licht zu erwarten. Die Hauptpforte dieser Kirchen zeigt nach Westen. So geschieht beim Betreten der Kirchen eine Bewegung vom Tod ins Leben. Nach der Neugeburt (Umwandlung) im Kirchenraum tritt der Mensch wieder in seinen Lebensweg ein, der vom Werden, Sein und Vergehen geprägt ist.

Der Sonnenuntergang im Westen steht für das Vergehen, Sterben und Tod. Der Jakobsweg führte als vorzeitlicher Einweihungsweg nicht nach Santiago sondern weiter nach Finisterre – dem Ende der Welt.

Das Cap Finisterre liegt am Atlantik als Begrenzung der damaligen Welt; darauf deutet auch der Name jener Küste hin: Costa da morte (Küste des Todes), auf galicisch 'Costa de la muerte'.

Dieser Punkt bezeichnet den Tod und die Wiedergeburt: Sterben des bisherigen, Wiedergeburt zu erneuertem Leben.

 

 

Das Meer gilt als Urwasser, als Verschlingerin und Gebärerin des Lebens, als Ort von Geburt, Transformation und Wiedergeburt. Es ist auch eine Metapher für die Ewigkeit

In diesem Zusammenhang ist auch das Pilgerzeichen: die Jakobsmuschel, zu sehen. Christen sahen in der bereits heidnisch verehrten Muschel ein Symbol für die Zeugung des Gottessohnes in der Jungfrau Maria. Christus, die Perle, entsteht aus der Hochzeit von Himmel und Erde. Die Muschel symbolisiert die Begegnung des Pilgers mit dem Himmlischen, der Grenze zwischen endlich und unendlich in Finisterre.

 

 

Die katholische Kirche hat diesen letzten Teil des Jakobswegs, der in Finisterre endet, nie offiziell anerkannt. Zu heidnisch scheint ihr dieser Ort, zu weit weg von der strengen Doktrin des Papstes, wonach jede Pilgerschaft am Apostelgrab in Compostela zu enden hat. Der Gedanke an die Ewigkeit, so predigte sie, müsse Richtung Himmel führen und nicht hinaus aufs offene Meer, ins "mare tenebrosum" mit seinen Geschichten von versunkenen Städten und dem möglichen Paradies. Doch der Camino de Santiago ist älter als der Katholizismus. Quellen sprechen von einem keltischen Weg, der entlang der Sterne gezogen ist und in der Gegend von Finisterre endet. Viele Galicier reden immer noch von der Milchstraße, wenn sie den Camino de Santiago meinen.

 

 

An den Plätzen früherer Kultstätten entstanden Einsiedeleien, Klöster und Kirchen. Dort stellte man seine Kostbarkeiten stolz zur Schau: Haare in edlen Goldschachteln, ein Schlüsselbein auf Samt gebettet, zwei braune Zähne hinter Glas. Reliquien zählten damals zu den wertvollsten Gütern volkstümlicher Frömmigkeit. Wunder und Legenden gehörten zum religiösen Alltag, Zweifel weniger. Dass man in Santiago gleich einen ganzen Leichnam gefunden hatte, dazu noch den eines Apostels, schien ein seltener Glücksfall. Mit dem Segen des Papstes avancierte der Camino de Santiago neben Rom und Jerusalem zu einer der drei "peregrinationes maiores" - und der heilige Jakob zum Pilgerheiligen schlechthin.

Der Ablaßhandel blühte, die Kirche machte gute Geschäfte mit der Angst vor dem Jenseits. Die Geschichten vom "finis terrae" verschwanden. Die Magie von Finisterre aber lebt weiter.

 

 

Texte zum Unterwegs-SEIN - Pilgerwege von verschiedenen Autoren:

Wege entstehen, indem wir sie gehen und welchen Weg Du auch gehen magst, er wartet mit Erfahrungen auf Dich, die Du nicht gemacht hättest, wärst Du einen anderen Weg gegangen. (Sprenger)

 

 

Es ist schwer zu erklären, was Jahr für Jahr Abertausende der Spur der Pilgerwege folgen lässt. Nicht wenige können auf die Frage nach dem Warum keine schlüssige Antwort geben, selbst dann nicht, wenn sie mehrere tausend Kilometer hinter sich haben... Was in jüngster Zeit viele interessiert, sind weniger die Riten noch die Glaubensvorstellungen noch die Normen und Regeln der Christlichen Religion, sondern in erster Linie die Gefühle, die die Pilgerschaft auslöst - Gefühle der Überwältigung, des Ergriffenseins und der Begeisterung für das Ganze ...Felder, Dörfer, Felder. Gehen, Schlafen, Gehen. Im Einklang mit der Natur. Zwischen 20 und 30 Kilometer pro Tag. Mittags wird die Landschaft zum Backofen. Die Beine schmerzen... Irgendwann stellt sich die innere Uhr um. Man hört auf zu rechnen. Man hört auf, über sein Leben, die Arbeit und Finanzen nach-zudenken. So geht das schichtenweise immer weiter runter. Der Intellekt baut sich ab. Irgendwann werden verblasste, 15 Jahre alte Erinnerungen wach. Es ist eine Art Meditation. Die Dinge kommen in einen ruhigen Fluss. Im Rückblick wird einem nur selten die Distanz bewusst. Der Weg wird zum Ziel, das Unterwegs-sein der Beweggrund... Bestimmte Orte, Kirchen und Kathedralen, ermöglichen in besonderer Weise dieses Initiationserlebnis. Die Vorstellung, wie viele Menschen hier beteten, gingen und Lieder sangen, übt eine Suggestivkraft aus, die jeden in den Bann zieht, vorausgesetzt, dass man sich die Zeit nimmt, die richtigen Schleusen zu öffnen... (Aus Fränkischer Tag: "Achtung, Pilger! Die Reise zum Ich", 3. Jan.2004)

 

 

Pilgern ist bestimmt nicht neu, aber heute so aktuell wie schon seit langem nicht mehr. Seit dem Altertum ist der fromme Besuch entfernter heiliger Stätten ein Bestandteil aller Kulturreligionen der Welt. Wir kennen Pilgerfahrten bei den alten Ägyptern zum Tempel der Isis, der "Großen Gottesmutter", den Wallfahrten der alten Griechen zum berühmten Artemisheiligtum in Ephesus... Im Christentum gab es drei große Pilgerziele. An erster Stelle stand das heilige Land, gleich dahinter rangierte Rom und als dritter großer Wallfahrtsort ist Santiago de Compostela in Spanien zu nennen... (Aus "Pilgerziele der Christenheit" von Caucci von Saucken, 1999)

 

 

Die Orte der Pilgerschaft sind keine Ziele in sich selbst, sondern wirken oft wie Schwellen zu neuen Lebensabschnitten. Die Pilgerschaft unternimmt man nicht um exklusiver Erfahrungen willen, sondern um sich dem Unverhofften zu stellen und so mit völlig neuen Erkenntnissen in das gewöhnliche Leben zurückzukehren. Trotz der Verschiedenheit  ihrer Kulturen, ihrer Umfelder, ihres Alters und ihrer persönlichen Situation haben alle Pilger etwas gemeinsam: die Suche nach dem Außergewöhnlichen... Umkehr bedeutet, alte Wege zu verlassen und die Art des Denkens und Handelns im eigenen Leben zu ändern; das geht in die Tiefe, ist schmerzhaft und anspruchsvoll...(Aus Sternenweg 32/2003, Beitrag von Julián Barrio)

 

 

Leben ist unterwegs sein, vom Gestern ins Morgen, vom Gewohnten ins Neue, vom Zweifelhaften ins Hoffnungsvolle - immer neu, bei jedem neu. Leben ist nie Stillstand, es gleicht dem laufenden Bach, der seinen Weg findet, letztlich ins große, unbegrenzte Meer. Stillstand wäre ein stehendes, ein faulendes, ein totes Wasser. Leben hat immer etwas vor sich, das hinzukommt. Wir nennen es Zukunft... Und jeder Tag ist im Kleinen ein Widerschein vom Ganzen, zumindest für den, der sich auf den Weg gemacht hat, der sich als "Wanderer zwischen zwei Welten" begreift. Der heutige Tag: für den einen vielleicht Aufbruch, für den anderen ein Innehalten, für diesen eine Weile, für jenen ein kurzes, rasches Vorüber. -Der sucht nach Richtung und Orientierung, der andere klebt an seinem Standpunkt, der andere fühlt sich verirrt. Aber alle sind unterwegs, ob in Hast oder in Bedächtigkeit... (Aus "Unterwegs sein", Pfr. Herbert Duffner, Bad. St. Jakobusgesellschaft)

 

 

Auf dem Pilgerweg finden sich, neben überwiegend katholischen Pilgern, evangelische und freikirchliche Christen, Atheisten, Esoteriker oder ganz einfach Humanisten. Diese wohltuende Vielfalt ist nicht selbstverständlich. Sie bedeutet nicht Gleichgültigkeit gegenüber dem Glauben des einzelnen Pilgers, sondern zeugt von der tiefen Achtung und Ehrfurcht vor der Lebensgeschichte und Persönlichkeit eines jeden Menschen. Vielleicht auch von der unausgesprochenen Ahnung, daß wir letztlich alle auf ein gemeinsames Ziel hin unterwegs sind... Es geht um ein Reifen in der Liebe, um das Loslassen von so vielen unnötigen Dingen, um das Freiwerden...

Hinzu kommen ganz persönliche Erfahrungen. Ein bewusster Umgang mit Beschwerden und Schmerzen, mit Hunger und Durst, mit Wüstenerfahrungen bis hin zur Auseindersetzung mit dem Tod... Der Camino (Spanisch = Jakobuspilgerweg)zeigt uns unsere Verwundungen, aber ist zugleich ein Weg der Heilung und Wandlung. Ein sehr wichtiger Aspekt ist natürlich auch das Lebenszeugnis der Mitpilger, in deren Existenz sich auch unser Leben widerspiegelt... Es gibt letztlich keine klar zu benennende Spiritualität des Weges. Sie entwickelt sich immer wieder neu, aber sie bewegt sich in der Tradition all der unzähligen Pilger, die glaubend, hoffend, liebend diesen Weg seit 1000 Jahren gehen... Dieses "Pilgersein" lässt sich nicht erzwingen, es ist eines der vielen Geschenke des Camino. So wie der Einzelpilger z.B. Prozesse des Loslassens, des Nicht-mehr-weiter-wollens usw. durchläuft, so ereignen sich auch beim Einzelnen in der Gruppe Prozesse, die nicht immer sichtbar sind und über die man zuweilen nur staunen kann... Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir auch als Gruppe uns bewusst in die Ungewissheit hineinstellen und uns nicht gegen alle Eventualitäten abzusichern versuchen... (Aus "Unterwegs auf dem Camino de Santiago" von Meinrad Bauer, Jugendreferent, 1998)

 

 

Wege verbinden: Der Jakobusweg hat sehr verschiedene Facetten. Seit mehr als einem Jahrtausend verbindet er Europa, führt Menschen mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen und Intentionen an ein gemeinsames Ziel, ermöglicht jedem Einzelnen, ganz individuell seine eigenen Erfahrungen zu machen und führt doch viele in einem Geist zusammen... Der Pilgerweg war immer auch ein Weg der Initiation. ... Der Schweiß, der Glaube, die Sehnsüchte und die Mühen von Millionen von Menschen sind nicht verloren... Der Pilgerweg nach Santiago symbolisiert stellvertretend mit seinen Höhen und Tiefen, mit seinen Hindernissen und Genüssen das Leben, er symbolisiert aber auch das Ziel, die Auseinandersetzung mit unserer Endlichkeit und mit dem was danach kommt... Nicht umsonst wird dieser Weg auch Sternenweg, Weg der großen Hoffnung und der Weg der Sehnsucht genannt...(Aus dem Vortrag der Badischen Sankt-Jakobus-Gesellschaft)

 

 

Kunst hat auch damit zu tun, wie man das Leben sieht... Seit Anfang der siebziger Jahre begreift sich der Konzeptkünstler Hamish Fulton als "Walking Artist", als Wanderer, dessen Kunst "aus der Erfahrung individuellen Gehens entsteht"... Das Gehen als Mittel der Selbsterkenntnis und spiritueller Erfahrung steht dabei in einer langen Tradition, die über die Zeit der Romantik und der religiösen Pilgerfahrten bis zu einzelnen Vorstellungen der antiken griechischen Philosophie zurückreicht..."Meine Arbeiten setzen sich über das Moment der Zeit nicht hinweg", erklärt der Wanderer, aber sie "nehmen auf meine Lebenszeit Bezug". Die Erfahrung des Gehens, die damit verbundene Aufnahme der Einflüsse aus der Natur, beides zusammen liefert so schließlich ein Koordinatensystem der eigenen menschlichen Existenz. (Aus "Kunstzei-tung 77/2003 "Wandern als spirituelle Erfahrung)

 

 

Für manche Wanderer ist der lange Weg eine rein sportliche Herausforderung. Doch auch die Sinnfrage -oft mit religiösem Hintergrund- bewegt viele Pilger. "Du wirst auch dem Weg finden, was Du suchst",... Verzichten können, Entbehrungen ertragen -das lernt man beim wochenlangen Marschieren. Vieles ist unnötig... Das kontinuierliche Ansteigen der Pilgerzahlen auf den verschiedenen Jakobswegen, die Europa wie ein Netz überziehen, hat seinen Niederschlag in der Literatur gefunden: Am bekanntesten ist Paulo Coelhos sehr persönli-ches Tagebuch "Auf dem Jakobsweg", daneben gibt es viele Werke - vom reinen Wanderführer bis zum spirituellen Ratgeber... (Aus "Der Fußweg zum Ich", Fränk. Tag, Okt/03)

 

 

Begibt man sich mit körperlicher Anstrengung auf den Weg, können sich sogenannte "Zivilisationskrankheiten" aus einer vorwiegend sitzenden Beschäftigung zu lösen beginnen... Bei einer traditionellen Pilgerreise ist eine Kultstätte der Zielpunkt, angefangen von altertümlichen heidnischen Heiligtümern über Naturdenkmäler zu Wallfahrtsorten. Empfehlenswert ist es, bereits gereinigt anzukommen, um die dort meist herrschenden höheren Schwingungen besser aufnehmen zu können. Dies gilt insbesondere, wenn einer Glaubensansicht zum Durchbruch verholfen werden soll, entweder positiv als Verwirklichung oder andererseits als Erkenntnis einer Projektion...Meist ahnt man, dass es sich um einen besonderen Platz handelt, man fühlt sich beschwingt und energetisiert. Leiden, welche aus einem Energiemangel resultieren, können dadurch gelindert werden, bzw. es tritt ein erhöhtes Schöpfungspotential zutage. Häufig wurde an dieser Stelle ein religiöses architektonisches Werk errichtet, vor allem wenn eine Wunderwirkung nachgewiesen wurde, wobei man Kirchen oft auf den Grundmauern heidnischer Kultplätze errichtete. Man kann davon ausgehen, dass sich an diesen Stätten mit erhöhter Energie durch das aufwärtsstrebende Wasser wahrscheinlich verdeckte oder offene Quellen befinden. Es kommt auch vor, daß sich kraftspendende und kraftabziehende Orte in unmittelbarer Nachbarschaft befinden...

 

 

„Gehe nicht nach außen, kehre in dich selbst zurück“ meinte Augustinus vor 1600 Jahren. Es ist der weise Rat, auf seine eigene Kraft zu vertrauen.
Der Psychologe James Bugental sagt: Unsere Heimat liegt innen. Solange wir diese uralte Wahrheit nicht neu entdecken, und zwar jeder für sich und auf seine Weise, sind wir dazu verdammt, herumzuirren und Trost dort zu suchen, wo es keinen gibt: in der Außenwelt.

Sich daran zu erinnern kann im Sitzen passieren, beim Meditieren oder in der Bewegung: Beim Pilgern. Das Gleichmaß der Schritte beruhigt den Geist, man hat genug Gelegenheit, sich und andere zu beobachten. Zu schauen, was einen bewegt. Die Seele öffnet sich wie eine Blüte, die Selbstkontrolle wird außer Kraft gesetzt: Wer dies zulässt, kann in den Zustand der Absichtslosigkeit, in ein andauerndes Gefühl der rechten Gelassenheit kommen.

 

 

Sich einfach mal „Gehen-lassen“ befreit! Der Weg gibt Kraft, nach der Rückkehr nicht mehr durchs Leben zu hetzen, sondern sich Zeit zu nehmen für Dinge, die wirklich wichtig sind – und diese zu erkennen.
Alles kann gut werden; man sagt ja auch: Es GEHT mir gut!

Die Kunst eines erfüllten Lebens
ist die Kunst des Lassens:
... zulassen - weglassen - loslassen ...
Ernst Ferstl

Pilgern im ursprünglichen Sinne hat auch etwas zu tun mit Initiation und Visionssuche, sodass ich das nicht unerwähnt bleiben lassen will:

 

 

3. Initiation & Visionssuche

 

 

Initiation bezeichnet u.a. die Einführung eines Außenstehenden in einen anderen persönlichen Seinszustand, z.B. vom Kind zum Mann, vom Novizen zum Priester oder vom Laien zum Schamanen. Der Hauptfall der Initiation ist die Pubertäts- und Stammesinitiation der Stammesgesellschaft und die daraus hervorgegangene Initiation der antiken Mysterienkulte. Sie gehört also im Wesentlichen zu einer archaischen Vergangenheit.

U.a. die christliche Taufe, Konfirmation und Firmung der Kirchen haben aufgrund ihres Symbolcharakters initiierenden Charakter. Hierbei tritt der spirituelle Charakter in den Mittelpunkt der Zeremonie. Der Errettung der Seele durch die Aufnahme in den Kreis der Gläubigen ist für viele Religionen das zentrale Element einer Initiation.

 

 

Die Mythen und Riten der Pubertäts- und Stammesinitiation sind meist streng geheim, sodass nur ausnahmsweise Einzelheiten bekannt geworden sind. Im Wesentlichen macht der Novize überall eine sog. Wiedergeburt durch.

Ähnlich wie der Eingeweihte des antiken Mysterienkultes so gilt auch der Wiedergeborene der Pubertäts- und Stammesinitiation als unsterblich, als Gott. Der Stamm ist im Unterschied zum Individuum natürlich zeitlos, und durch Integration in den Stamm nimmt der Jüngling offenbar Teil an dessen Zeitlosigkeit. Da sich die Stammesgesellschaft stets als die Nachkommenschaft eines göttlichen Ahns versteht, so läuft die ganze soziale Integration des Novizen offenbar darauf hinaus, dass er als zeitlich und räumlich begrenztes Individuum vergeht und - wie alle anderen Stammesgenossen - als eine Verkörperung des großen Ahns neu ersteht.

 

 

Man ist sich weithin einig, dass die Einweihung in den antiken Mysterienkult auf die archaische, ursprünglich weltweit verbreitete Pubertäts- und Stammesinitiation zurückgeht. Man kann allerdings keineswegs sagen, dass die Mysterienkulte allgemein eine reine Privatangelegenheit gewesen wären. Das mag am ehesten auf die aus dem Orient importierten Kulte zutreffen, aber die Mysterien von Eleusis waren ein Teil des athenischen Staatskultes und wurden von Königsarchonten organisiert, ähnlich war der Kult des Dionysos ein Teil des Staatskultes jedenfalls der Thebaner und Kreter, ebenso gehörten die andanischen Mysterien der Demeter zum Staatskult der Messenier.

Wie bei der Pubertäts- und Stammesinitiation liegt die Einweihung auch hier eigentlich im Vorgang der sog. Wiedergeburt (annagenesis, renatio), und ähnlich wie dort so ist auch hier der Wiedergeburtsritus streng geheim. Etwas deutlich wird dies durch Lucius mit seiner "Fahrt durch alle Elemente": Hier unterrichtet ein Mystagoge seinen Schüler über das Verhältnis von Geist und Materie, bis dieser plötzlich ausruft: "Unerschütterlich bin ich geworden, Vater, und durch Gott habe ich eine Vision ... Ich bin im Himmel, in der Erde, im Wasser und in der Luft, ich bin in den Pflanzen und Tieren ..., (ich bin) überall".

 

 

Die Eigenart des Mithraskultes ist, dass seine kleinen Grottenheiligtümer zwar reich geschmückt waren mit Reliefbilder und Plastiken, dass es jedoch keine heilige Geschichte des Kultes in schriftlicher Form gibt.

Eine klare Vorstellung vom Initiationsritual hat man sonst nur noch im Fall des Kybele- und Attiskultes.

So gibt es auch die so genannte Heldenreise; hierbei liegt die Annahme zugrunde, daß in jedem Menschen zwei entgegengesetzte Pole stecken. Der eine strebt danach etwas aus dem Leben zu machen, sucht Veränderung und Weiterentwicklung; der andere Pol die Bequemlichkeit des Vertrauten.

Diese Pole von Sehnsucht und Sicherheit gälte es miteinander zu versöhnen, weil sonst Lähmung, Energielosigkeit und Unzufriedenheit folge. Ziel ist Authentizität und Erfolg. Sowohl der abenteuerlustige als auch der schutzbedachte Teil müssen dazu in der Seele integriert werden. Diesen Konflikt zu lösen, bedeutet reif und selbstverantwortlich zu werden. Die Vereinigung von "Held" und "Dämon" führt zu einer integrierten Person, die Wünsche und Ziele, Fähigkeiten und Hindernisse kennt und zielstrebig handelt.

 

 

Der Zyklus der Heldenreise nach Campbell

Die Stationen einer Heldenreise stellen sich wie folgt dar:
1.Ruf: Erfahrung eines Mangels oder plötzliches Erscheinen einer Aufgabe
2. Weigerung: Der Held zögert, dem Ruf zu folgen, beispielsweise, weil es gilt, Sicherheiten aufzugeben.
3. Aufbruch: Er überwindet seine Zögerlichkeit und macht sich auf die Reise.
4. Auftreten von Problemen, die als Prüfungen interpretiert werden können
5. Übernatürliche Hilfe: Der Held trifft unerwartet auf einen oder mehrere Mentoren.
6. Die erste Schwelle: Schwere Prüfungen, Kampf mit dem Drachen etc., der sich als Kampf gegen die eigenen inneren Widerstände und Illusionen erweisen kann.
7. Fortschreitende Probleme und Prüfungen, übernatürliche Hilfe.
8. Initiation und Transformation des Helden: Empfang oder Raub eines Elixiers oder Schatzes, der die Welt des Alltags, aus der der Held aufgebrochen ist, retten könnte. Dieser Schatz kann in einer inneren Erfahrung bestehen, die durch einen äußerlichen Gegenstand symbolisiert wird.
9. Verweigerung der Rückkehr: Der Held zögert in die Welt des Alltags zurückzukehren.
10. Verlassen der Unterwelt: Der Held wird durch innere Beweggründe oder äußeren Zwang zur Rückkehr bewegt, die sich in einem magischen Flug oder durch Flucht vor negativen Kräften vollzieht.
11. Rückkehr: Der Held überschreitet die Schwelle zur Alltagswelt, aus der er ursprünglich aufgebrochen war. Er trifft auf Unglauben oder Unverständnis, und muss das auf der Heldenreise gefundene oder errungene in das Alltagsleben integrieren. (Im Märchen: Das Gold, das plötzlich zur Asche wird)
12. Herr der zwei Welten: Der Heros vereint Alltagsleben mit seinem neugefundenen Wissen, und lässt somit die Gesellschaft an seiner Entdeckung teilhaben.

Der von Campbell beschriebene Zyklus der Heldenfahrt wurde von Therapeuten und Coachs wie Paul Rebillot oder Martin Weiss zu einem psychologischen und initiatorischen Training weiterentwickelt.

 

 

Hiermit kommen wir abschließend zur Visionssuche:

Was ist das: Visionssuche? Und welche Chancen und Nutzen kann der moderne Mensch aus diesem uralten Übergangsritual ziehen?

Eine Visionssuche ist ein Ritual, welches auch in Deutschland immer mehr Menschen durchführen. Sei es, weil sie an einem Wendepunkt in Ihrem Leben stehen, weil sie sich in einer tiefen (Lebens-)Sinnkrise befinden oder weil sie einfach nur suchen.

In traditonellen Kulturen war es selbstverständlich, dass Wechsel von einer Lebensphase in die nächste mit Übergangsriten oder -zeremonien gefeiert wurden. Es half den Menschen, ihre Lebensübergänge besser zu verstehen, ihre sozialen Verpflichtungen einzugehen.

 

 

In unserer heutigen Zeit haben die technischen Wissenschaften und das damit einhergehende moderne Leben die verschiedenen Zeremonien, mit denen Übergänge von einem Lebensabschnitt zum nächsten begangen werden, immer mehr in den Hintergrund gerückt.

Auch andere Krisen, wie z.B. der Tod eines geliebten Menschen, Unfälle oder Krankheiten werden nicht durch gesellschaftliche Rituale abgefangen. Der Einzelne erhält nicht die Möglichkeit, die Krise als Erfahrung zu erleben, zu verstehen um sie schließlich zu überwinden.

Bei einer Visionssuche verbringen die Teilnehmer weit draußen in der ursprünglichen Natur und fernab von jeglicher Zivilisation eine bestimmte Zeit völlig allein. Eine Zeit, in denen von ihnen Eigenschaften gefordert werden, die im Alltag viel zu selten tangiert werden. Dazu zählen beispielsweise Angst und Mut, Ausdauer und Kontinuität oder Selbstüberwindung und Erfindungsgeist. Was man dafür bekommt, ist jedoch die Anstrengung wert: wichtige, wenn nicht gar zentrale Fragen des Lebens werden beantwortet, man wird erwachsen und bewältigt Lebenskrisen wesentlich einfacher.

 

 

Die Visionssuche, auch Visionquest ist ein bei vielen Völkern der Erde in wandelbarer Gestalt vorzufindendes Übergangsritual: um einen Lebensabschnitt zu beenden oder einen neuen zu beginnen oder um die Welt und sein Leben mit neuen Augen, unter anderen Perspektiven sehen zu lernen.

Um eine Vision zu finden, sind Vorbereitungen erforderlich. Ein Ort in der Natur wird ausgewählt, an dem der Suchende möglichst allein und ungestört sein kann. Traditionell werden gerne Hügel und Anhöhen für eine Visionssuche ausgesucht, um den Alltag hinter sich lassen und dem "Himmel" besonders nahe sein zu können. Oft wird der Ort, an dem die Vision empfangen werden soll, durch einen Schamanen oder in einem Traum gezeigt. Das Rital durchläuft drei deutlich unterscheidbare Phasen: Abtrennung (Vorbereitung), Schwellenzeit (Solo) und Wiederverkörperung (Integration) Das eigentliche Ritual beginnt mit einer Reinigung des Körpers und der Kleidung. Während der Visionssuche, die einige Stunden oder aber auch Tage bis Wochen dauern kann, enthält sich der Kandidat jeglicher Nahrung und lehnt es meistens auch ab, Wasser zu trinken. Er bringt die Zeit während des Tages und der Nacht mit Beten und Meditationen zu, er hört auf den Wind, die Tiere, das Gras, die Steine und versucht sich für Botschaften der Elemente und wahrgenommene Hinweise und Symbole, die mit seinem Anliegen in Beziehung stehen könnten, zu öffnen. Die ersehnte Vision offenbart sich in der Regel erst nach einigen Tagen plötzlich und unerwartet und in individuell unterschiedlicher Form z.B. als überraschende Einsicht, das Sehen von Bildern und Abläufen oder als Botschaften, die durch Geister, Tiere und andere Verbündete mitgeteilt werden.

 

 

Ein Visionssuchender, der mit einer Vision heimkehrt, feiert das Ereignis mit seinen Verwandten und Freunden. Die empfangene Vision wird als ein Geschenk betrachtet, das in das Leben integriert werden muss und das die Verpflichtung mit sich bringt, entsprechend den neuen Einsichten zu handeln.

Die Visionssuche ist ein in vielen Kulturen praktiziertes Ritual, mit denen Menschen zu allen Zeiten der Geschichte Krisen bewältigten und Übergänge von einer Lebensphase in eine andere markierten. Die Lebensbedingungen mögen sich in der modernen Welt verändert haben, die Krisen und Übergänge sind die gleichen geblieben: Der Wandel vom Jugendlichen zur erwachsenen Frau und zum erwachsenen Mann, der Eintritt in das Familienleben, die Lebensmitte, der Eintritt ins Alter verlangen nach gestalteten Übergängen, Ritualen, Initiation. Wichtige Entscheidungen – seien es Partnerschaft oder Trennung, berufliche Neuorientierung oder Krankheit – verlangen einen Rückzug aus dem Alltagsleben, um innere Klarheit und Stärke für den nächsten Schritt zu gewinnen.

 

 

Das Wort Visionssuche, im Englischen ‘Vision Quest’ kommt vom lateinischen ‘videre’ = ‘sehen, schauen, erkennen’, von dem Wort ‘visio’ = ‘das Gesicht’ und von ‘quaerere’ = ‘suchen, erkennen’. ‘Quest’, das war im europäischen Mittelalter der Name für eine suchende Wanderschaft oder Wallfahrt ins Unbekannte, eine ‘heilige Suche’ der Ritter nach spiritueller Einsicht.

Die Tatsache, daß die christlichen Missionare diese kulturelle Praxis, die sie bei den indigenen Völkern Amerikas vorfanden, ‘Vision Quest’ nannten, verweist darauf, daß sie dadurch an eigene Traditionen in der europäischen Geschichte erinnert wurden. Tatsächlich machen historische Forschungen deutlich, daß es sich bei dem einsamen Fasten in der Wildnis nicht um ein indianisches Ritual handelt. Vielmehr wurde diese Praxis auf der ganzen Welt in Zeiten des Übergangs genutzt. Auch im europäischen Kulturraum gibt es zahlreiche Hinweise auf entsprechende Traditionen. Das beginnt mit den Legenden um den germanischen Gott Odin, setzt sich fort in den griechischen und römischen Mythen, und führt über die frühchristlichen Traditionen des einsamen Fastens der biblischen ‘Wüstenväter’ bis in die Gralssuche  des Mittelalters. Zudem verweisen die allermeisten Märchen, bei denen es sich in der Regel um uralte mündlich überlieferte Legenden aus der Frühzeit handelt, auf eine verbreitete Praxis von Übergangsritualen. Immer geht es in den Märchen darum, daß Menschen ihre gewohnte Welt verlassen, allein in den dunklen Wald gehen, sich dort unbekannten Gefahren, inneren Dämonen oder (über)natürlichen Herausforderungen stellen, diese mit reinem herzen bewältigen und gewandelt und in neuer sozialer Rolle in ihre Gemeinschaften zurückkehren.

 

 

In diesem Kontext wird deutlich, daß es sich bei der Visionssuche nicht um die Übernahme eines ‘exotischen’ Rituals handelt, sondern um die moderne Anknüpfung an einen der ältesten Heilungs- und Übergangsprozesse unserer Vorfahren.

“Die zivilisatorische Schicht, die uns von der Wildnis trennt, ist nicht dicker als drei Tage”, sagt der amerikanische Psychologe und Wildnisforscher Robert Greenway. Wer länger in der Wildnis bleibt, träumt anders, denkt anders, nimmt anders wahr. In fast allen Kulturen, die mit Übergangsritualen und Initiationen arbeiteten, fanden diese außerhalb der gewohnten Umgebung, bevorzugt in der Wildnis statt. “Die archaischen Menschen (hatten) noch die Einsicht, dass man seine Welt verlassen musste, um sie erkennen zu können, dass man nur ‚zahm‘ werden konnte, wenn man zuvor ‚wild‘ gewesen war oder dass man nur dann in der Lage war, im vollen Sinn des Wortes zu leben, wenn man die Bereitschaft gezeigt hatte, zu sterben”, schreibt der Anthropologe Hans-Peter Duerr in seinem Klassiker‚ Traumzeit‘: “Um also innerhalb der Ordnung leben zu können, musste man in der Wildnis verweilt haben, man konnte nur wissen, was drinnen bedeutete, wenn man draußen gewesen war.”

 

 

 

Für den Teilnehmer einer Visionssuche kommt es darauf an, die Anbindung an die Zivilisation für einige Tage hinter sich zu lassen. Nur wenn man sich von seiner gewohnten Umgebung trennt, wenn man nicht durch gewohnheitsmäßiges Handeln abgelenkt wird, entsteht der Raum für neue Wahrnehmungen, für eine neue Aufmerksamkeit. Unbekannte Landschaften schaffen Raum für ein neues Sich-Erleben und –Erfahren. Die Unsicherheiten und Ängste in der Konfrontation mit der Wildnis haben die Kraft, wie ein Katalysator uns mit den unbekannten und hemmenden Elementen unserer Psyche zu konfrontieren, die uns an der Entfaltung unserer Potenziale hindern. Kein Dach über dem Kopf zu haben, bedeutet, einen wesentlichen Eckpfeiler dessen, was Zivilisation seit etwa 10.000 Jahren ausmacht hinter sich zu lassen und an die Erfahrungen unserer Vorfahren anzuknüpfen.

Unsere gesamte Kultur beruht auf einer Ausgrenzung der Wildnis und der Verdrängung ‚wilder‘ Anteile in unserer eigenen Natur. Gleichzeitig ist eine wachsende Sehnsucht nach Erfahrungen mit einer ursprünglichen Natur zu beobachten, die in vielen Traditionen als existenzielle Herausforderung, als „reine Schöpfung“ oder „heiliger Raum“ verstanden wurde.

Die Erfahrung, allein in der Wildnis zu sein, eröffnet bei den meisten Teilnehmern an Visionssuchen einen intensiven Bezug zur Natur, neue Wahrnehmungsformen, eine tiefe Kommunikation mit der natürlichen Welt und ein neues Verhältnis zur Natur des eigenen Körpers.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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