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Geomantie und Kraftorte, Genius Loci

Geomantie-Artikel u.a. aus Hagia Chora – Forum für Geomantie

1. „Der Geist eines Ortes“ - Kleine Kulturgeschichte des Genius Loci
Von Robert Kozljanic

2. Genius Loci "Genius und Daimon" von Marco Bischof, 6/2000

3. „Geomantie – Orte der Kraft“ Eine Konzeption von den unsichtbaren Strukturen von Raum und Landschaft jenseits von Physik und Radiästhesie
Von Marco Bischof, 1990

4. „Die Geschichte der Wiederentdeckung der Geomantie“
Von Marco Bischof, 1999

5. „Landschaftsarchetypen und Weltreligionen“ von Stefan Brönnle

6. Literaturhinweise & Links

1. Der Geist eines Ortes - Kleine Kulturgeschichte des Genius Loci
Von Robert Kozljanic

Genius Loci - der Geist eines Ortes: ein traditionsreiches Wort für ein traditionsreiches Phänomen. Von der Antike bis heute: immer wieder taucht dieses Wort auf, immer wieder nimmt man darauf Bezug, immer wieder will man damit etwas sagen, will damit auf gewisse Phänomene hinweisen. Besonders in den letzten Jahrzehnten, im Zuge der nicht abebbenden umwelt- und naturbezogenen Diskussionen, erfuhr dieser Begriff eine regelrechte Renaissance. Der folgende Text, das Manuskripts eines Vortrags, untersucht die Herkunft des Begriffs und seine wechselnde Bedeutung im Laufe der Epochen bis in die heutige Zeit.

Der Mythos lebt. Er wurde nie vom Logos überwunden, wenn überwunden meint: getötet. Wenn wir sagen: "Schau! Dort! Die Sonne geht unter. Schön, nicht?" - dann ist der Mythos da.
Der Logos kann den Mythos überformen und überbauen, verplanen und planieren, verstellen und verdrängen - selbst zubetonieren - nie aber ausmerzen.

Die wissenschaftliche Erklärung mag uns (auf der Basis des Logos, wie sich versteht) immer und immer einhämmern: dass nicht die Sonne es ist, die untergeht, sondern nur dieser Fleck Erde hier sich soeben aus der Sonne dreht; dass die Sonne weder gehen noch untergehen kann: sie hat nämlich keine Füße; und - zu guter Letzt - was heißt hier schön? Alles Anthropomorphismen, Die Realität (des Logos, wie sich versteht) sieht anders aus.
Doch diese Erklärung ändert nichts daran, dass auch morgen die Sonne wieder untergehen wird. Schön, nicht?
Ein Beispiel, an dem man ebenfalls sehr gut sehen kann, dass der Mythos durch den Logos nicht auszumerzen ist, ist die Geschichte des Begriffs und Phänomens des Genius Loci.

Genius Loci - der Geist eines Ortes: ein traditionsreiches Wort für ein traditionsreiches Phänomen. Von der Antike bis heute: immer wieder taucht dieses Wort auf, immer wieder nimmt man darauf Bezug, immer wieder will man damit etwas sagen, will damit auf gewisse Phänomene hinweisen. Besonders in den letzten Jahrzehnten, im Zuge der nicht abebbenden umwelt- und naturbezogenen Diskussionen, erfuhr dieser Begriff eine regelrechte Renaissance.

Der in verschiedenen Disziplinen (v.a. Architekturtheorie, Humangeographie, Garten- und Landschaftgestaltung, aber auch Esoterik, Geomantie und Radiästhesie, Religionwissenschaft, Archäologie, Literaturwissenschaft etc.) immer wiederkehrende Terminus des Genius Loci erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, man hätte es dabei stets mit den gleichen Begriffen, Ansätzen und Phänomenen zu tun. Doch der Schein trügt. Es handelt sich um verschiedene Diskurse, die jeweils unter Genius Loci etwas anderes verstehen. Die Palette dessen, was Genius Loci sein soll, reicht dabei von der rein metaphorischen und rhetorischen Bedeutung des Wortes, über die geschichtliche eines an einem Ort erscheinenden "Zeitgeistes" und eines soziokulturell konstruierten "Ortsgeistes", ferner über die Bedeutungen von ökologischen, ästhetischen und synästhetischen Qualitäten von Orten, bis hin zu ortsgebundenen "Energiefeldern" und "ortsansässigen" Naturgeistern. Diesen verschiedenen, teils widersprüchlichen Bedeutungen des Begriffs Genius Loci scheint mir aber doch ein gemeinsames Motiv, ein umgreifendes Bedürfnis zugrundezuliegen. Dieses Bedürfnis scheint das zu sein, der zunehmenden Heimatlosigkeit unserer Zeit - einer Heimatlosigkeit, die, wie Heidegger in seinem Vortrag "Bauen Wohnen Denken" 1951 betonte im Grunde eine Ortslosigkeit ist - entgegenzusteuern. Dieses Bedürfnis, dunkel und unausmerzbar wie es ist, ist mythisch. Man kann es nicht auf den Begriff bringen. Von daher kann man es auch nicht ideologisch ausbeuten. Genauer gesagt: nur das begrifflich zurechtgemachte Derivat jenes Bedürfnisses läßt sich ausnützen, nicht aber das Bedürfnis selbst.

Um dem Begriff, aber auch dem Phänomen des Genius Loci näher zu kommen, um überhaupt einmal festzustellen und festzuhalten, was man in der Antike, aus der dieser Begriff ja stammt, damit meinte und welche Erfahrungen man damit verband, möchte ich zunächst einen Blick auf den archaisch-mythischen Ursprung des Genius Loci werfen:

1. Der archaisch-mythische Ursprung des Genius Loci

1.1 Zum Begriff des Genius Loci in der Antike

In der Antike war man generell der Ansicht, dass speziellen Orten spezielle Ortsgeister, Ortsgenien, einwohnen würden. Vor allem handelte es sich hierbei um artifizielle Orte, denen eine soziale und existenzielle Bedeutung zukam, oder aber um natürliche Orte, die von sich her eine gewisse göttliche oder, besser, numinose Ausstrahlung hatten.

In Bezug auf den künstlichen Ort und seinen Geist lesen wir bei Prudentius: ". . . auch den Thoren pflegt ihr einen Genius zuzuschreiben, den Häusern, den Thermen, den Ställen und für jeden Ort und alle Glieder der Stadt viele tausend Genien anzunehmen, so daß kein Winkel des ihm eigenen Schattengeistes entbehre."

Und in Bezug auf den natürlichen Ort sei eine interessante Stelle bei Cato, in dessen Schrift über die Landwirtschaft, angeführt: "Einen Hain muß man nach römischem Brauchtum so auslichten: Bringe mit einem Schwein das Sühneopfer dar, sprich folgende feierliche Formel: Ob du ein Gott bist oder eine Göttin, demgehörig dieses Heilige ist, wie es Recht ist, dir mit einem Schwein das Sühneopfer zu bringen der Lichtung jenes Heiligtums halber und dieser Dinge halber, daß es mit Recht getan sei, mag ich, mag es irgendeiner auf meinen Befehl tun, dieser Sache halber richte ich, indem ich dieses Schwein zum Sühneopfer schlachte, gute Bitten an dich, daß du seiest gütig und geneigt mir, meinem Hause, meiner Hausgenossenschaft und meinen Kindern; dieser Dinge halber sei geehrt durch Schlachtung dieses Schweins zum Sühneopfer."

Oft hatten die Ortsgenien einen eigenen Altar, auf dem ihnen geopfert wurde. Ein herculanensisches Wandgemälde gibt einen Eindruck davon.

Dem Begriff des Genius entspricht im Griechischen der des "daimon". Daimon bedeutet in der Antike nicht Teufel oder teuflischer Geist - diese Bedeutung bekam er erst durch die christliche Uminterpretation - sondern daimon meint einfach ein numinoses Wesen, einen göttlichen Geist. Göttliche Wesen gab es viele, einige darunter waren bei den Griechen ortsgebundene Lokaldaimonen. Wenngleich die Griechen für diese Lokaldaimonen - im Gegensatz zu den Römern - auch keinen eigenen Begriff hatten, daran, dass an speziellen Orten spezielle göttliche Wesen hausen, war kein Zweifel. Wenn z.B. Sokrates im platonischen Dialog "Phaidros" in unmittelbarer Nähe eines am Illissos-Fluss gelegenen Nymphenheiligtumes sagt: "Denn in Wahrheit göttlich scheint dieser Ort zu sein, so daß, wenn ich gar im Verlauf der Rede mehrfach von den Nymphen ergriffen werde, du dich mir nicht wundern mögest", so meint er damit nichts anderes, als dass es hier ortsansässige, göttliche Geister gebe, deren Einfluss er an diesem Ort ausgesetzt ist. Doch damit habe ich schon einen weiteren Punkt angesprochen:

1.2. Das mythisch-archaische Erleben des Genius Loci

Genius Loci war ja nicht nur ein Begriff, der in der Antike verwendet wurde, war ja nicht nur eine gewisse - mehr oder weniger reflektierte, mehr oder weniger verbreitete - Ansicht über Ortsgeister. Vor allem verbanden sich mit diesem Begriff gewisse lebensweltliche und religiöse Erfahrungen und Erlebnisse. Diesen möchte ich mich nun zuwenden, um das archaisch-mythische Phänomen, also die lebensweltliche Erscheinung des Genius Loci näher in den Blick zu bekommen. Das obige Platon-Zitat hat es schon angedeutet: an gewissen Orten findet man eine numinose Atmosphäre vor, eine gewisse geheimnisvoll-göttliche Stimmung, eine Anmutung, die einen auch in ihren Bann ziehen kann. Damit ist eine zentrale antike Genius-Loci-Erfahrung angesprochen, die von Seneca im 41. Brief an Lucilius noch deutlicher gefasst wurde

"Wenn du findest einen von alten und über die übliche Größe hinausgewachsenen Bäumen bestandenen Hain, den Anblick des Himmels durch den Wuchs einer den anderen verdeckender Zweige verhindernd - diese Erhabenheit des Waldes, das Geheimnisvolle des Ortes (secretum loci) und die Verwunderung über den in einer offenen Landschaft so dichten und ununterbrochenen Schatten wird dies in dir den Glauben an göttliches Walten (an das Numinose: numinis) wecken. Wenn eine Höhle, tief aus den Felsen ausgewaschen, den Berg über sich trägt, nicht von Menschenhand geschaffen, sondern durch Kräfte der Natur zu solcher Weite ausgehöhlt, wird sie deine Seele durch eine Ahnung von Gottesfurcht erbeben lassen. Bedeutender Flüsse Quellen verehren wir; das unvermittelte Hervorbrechen eines starken Stromes aus dem Verborgene besitzt Altäre; verehrt werden die Quellen heißer Gewässer, und manche Seen hat entweder schattiges Dunkel oder unergründliche Tiefe geheiligt." Ich möchte dieses Erleben als das stimmungsmäßige Erleben eines Ortes bezeichnen. Ort wird hier im archaisch-mythischen Kontext wohlgemerkt immer als relativ eng umgrenzter Bezirk verstanden: dieser Hain, diese Quelle, dieser See, dieser heilige Baum, diese Stelle des Berges, etc.

Um einen Einblick in die tiefsten Schichten des Erscheinens des Genius Loci zu geben - einen Einblick in das, was ich in Folge daimonisches Erleben eines Ortes nennen werde - möchte ich mich kurz dem bis in graue Vorzeit zurückweisenden Trophonios-Orakel zu Lebadeia in Böotien zuwenden. Pausanias hat in seiner"Beschreibung Griechenlands" (2. Hälfte des 2. Jh. n. Chr.) eine eindrückliche Schilderung der rituellen Orakelbeftagung des dortigen Höhlendaimons Trophonios gegeben. Laut Pausanias muss der Orakelsuchende, nach tagelangen rituellen Vorbereitungen, Fasten, Opfern, in der durch Eingeweideschau ermittelten günstigen Stunde in Leinengewand gehüllt, mit einheimischen Sandalen an den Füßen, zur Höhle des Trophonios gehen. Mit den Füßen voraus lässt er sich in den engen Höhlenspalt gleiten.

Hören wir, an der interessantesten Stelle, Pausanias selbst: "Der übrige Körper wird dann sofort ergriffen und folgt den Knien nach, wie der größte und reißendste Fluß einen vom Strudel erfaßten Menschen verschlingt. Von da an ist für die, die in das Allerheiligste gelangt sind, die Art und Weise, wie sie die Zukunft erfahren, nicht ein und dieselbe, sondern der eine sieht, der andere hört etwas. Die Hinabgestiegenen kehren durch dieselbe Öffnung wieder zurück und wieder mit den Füßen voraus. ... Denjenigen, der vom Trophonios heraufkommt, nehmen wieder die Priester und setzen ihn auf den sogenannten Thron des Erinnerns, der nicht weit vom Allerheiligsten steht, und fragen ihn dort, was er gesehen und erfahren hat. Danach überlassen sie ihn seinen Angehörigen. Diese tragen ihn in das Haus, in dem er sich auch vorher aufhielt bei dem guten Geschick und dem guten Daimon, noch ganz benommen vom Schrecken und ohne Bewußtsein seiner selbst und seiner Umgebung. Im übrigen ist er dann später durchaus nicht weniger bei Verstand als vorher, und das Lachen kommt ihm auch wieder. Ich schreibe das nicht nur vom Hörensagen, sondern weil ich andere gesehen und auch selber das Orakel des Trophonios befragt habe. "

1.3. Das mythisch-archaische Einordnungsverhältnis

Will man die Beziehung, in der der mythisch-archaische Mensch hier zur Natur steht, mit einem Wort beschreiben, könnte man treffend von einem Einordnungsverhältnis sprechen. Der Mensch ordnet sich dem natürlich-numinosen Ort, den er schon in seiner gewachsen und natürlich gewordenen, sozusagen bodenständiger Struktur antrifft unter, bzw. ein. Die natürliche Grotte wird bestenfalls etwas ausgemeißelt, nämlich um ein Kultbild des Genius Loci hinzustellen; der Hain wird höchstens mit einer Einhegung versehen, nämlich um ihn vom profanen Außen abzugrenzen; am Berg stellt man einen kleinen Rundaltar auf. Aber alle gestaltenden Eingriffe des Menschen ordnen sich im Prinzip dem Vorgefundenen ein, geben sich den natürlich-numinosen Einflüssen hin.

2. Die mythisch-homerische landschaftliche Ausweitung des Genius Loci

2.1. Das mythisch-homerische Überformungsverhältnis

"Es ist", schreibt Erwin Rohde, der berühmte Altphilologe und Freund Nietzsche, "wenn man nur Homer vertrauen wollte, als ob die zahllosen Lokalkulte Griechenlands, mit ihren an einen engen Wohnplatz gebundenen Göttern , kaum existiert hätten: Homer ignoriert sie fast völlig. Seine Götter sind panhellenische, olympische. ... Und in seinem Spiegel scheint Griechenland einig und einheitlich im Götterglauben, ... In Wirklichkeit kann - das darf man kühn behaupten - diese Einheit nicht vorhandenen gewesen sein; die Grundzüge des panhellenischen Wesens waren zweifellos vorhanden, aber gesammelt und verschmolzen zu einem nur vorgestellten Ganzen hat sie einzig der Genius des Dichters "

Dieses homerische Weltbild, in dem die Götter und Göttinnen des 0lymps die zentrale Bedeutung haben, ist nun mit der überkommenen archaisch-volksreligiösen Tradition, der Tradition der Lokalkulte, in ein eigentümlich Allianzverhältnis getreten. Man könnte hier auch - in ungezwungener Analogie zu Nicolai Hartmanns Schichttheorie - von einem Überformungsverhältnis sprechen. Überformung meint hierbei, dass beim Übergang von der älteren Schicht in die jüngere nichts Wesentliches verloren geht Dies deshalb, weil (immer noch in Anlehnung an Hartmanns Theorie) in beiden Schichten die gleiche kategoriale Struktur - in unserem Fall die mythische - herrscht. Homerisches Weltbild und archaischer Volkglaube sind in der Antike gleichermaßen mythisch strukturiert: deshalb können sie auch jederzeit miteinander in Beziehungen treten. Ein Beispiel, wo das besonders augenscheinlich wird, sind die diversen, den homerisch-olympischen Gottheiten geweihten antiken Tempelbauten.

Der Kürze halber sei hier nur auf das Hera-Heiligtum auf Samos verwiesen, wo sich dieses Überformungsverhältnis deutlich zeigt. An nach folgendem Grundriss des Heiligtums aus dem frühen ersten Jahrtausend lässt sich das gut nachvollziehen. Neben den an einen Ort (Kultbaum) gebundenen Daimon (evtl. Bauinnymphe) tritt die landschaftlich übergreifende Göttin (Hera) und ihr Tempel, bzw. Kultbau. Der unmittelbare Altarbereich mit dem Kultbaum und ein primitiver Vorläuferbau lassen sich archäologisch bis ins dritte Jahrtausend zu den karischen Ureinwohnern zurückverfolgen. Hera nicht. Sie kann frühestens mit den griechischen Eroberern im zweiten Jahrtausend hierher gekommen sein. Baum und Tempel haben, wie der Grundriss aus der Zeit der Spätantike zeigt, trotz mannigfacher Überformungen, eine vergleichsweise kontinuierliche, dreitausendjährige Tradition.

2.2. Die mythisch-homerische Erfahrung des Genius Loci

Es wurde immer wieder bemerkt, dass viele der antiken Tempel in einem deutlichen Bezug zur Umgebung stehen; dass sie sich einerseits der Landschaft anpassten, andererseits sie in ihrer charakteristischen Eigenart betonten, ja gewissermaßen auf den Punkt brachten. Ein Tempel der so genannten kuhäugigen Hera steht z.B. oft in Bezug zu feuchten, viehreichen Niederungen, die Tempel des so genannten fern hintreibenden Apollon bevorzugen Hanglagen mit Fernblick, Poseidon -Tempel finden sich oft quasi über dem Meer schwebend am Kap, Hades-Tempel stehen in deutlichem Bezug zu Eingängen in die Unterwelt, also Schluchten und Klüften, etc.

Die Altphilologin Paula Philippson ist in ihrer Schrift "Griechische Gottheiten in ihren Landschaften" dieser Bezüge nachgegangen und konnte sie nur bestätigen und vertiefen. Die den Tempel umgebende Landschaft wurde von ihr als Kultlandschaft des jeweiligen Gottes beschrieben. Ist der Tempel der Kulminationspunkt dieser Landschaft, so die Landschaft wesentlich auch Erscheinungsform des jeweiligen Gottes. Zwei klassische Beispiele hierzu: das Heraion von Samos, das in einer charakteristisch "heraischen" und der Apollon-Tempel zu Delphi, der in einer charakteristischen "apollinischen" Landschaft eingebettet ist. Aus all diesen Beispielen wird klar ersichtlich, dass der homerische Grieche ein klares Bewußtsein der landschaftlichen Gegebenheiten hatte; dass er zudem die Atmosphäre einer Landschaft nicht nur zu erfahren und erfassen wusste, sondern sich mit seinen Tempelbauten auch architektonisch auf sie einließ und sie dadurch verdeutlichte, hervorhob, steigerte. Ich spreche deshalb hier von einem stimmungsmäßigen Erleben einer Landschaft (unter Berücksichtigung der stimmungsmäßigen und daimonischen Erlebnisse darin vorkommender Orte.) Dass dieses Erleben Ähnlichkeit mit dem ästhetischen Naturerleben der Neuzeit hat, ist offensichtlich; dass es aber nicht mit jenem profanem, oft rein ästhetizistischen Genußerleben der Neuzeit identisch ist, dürfte aus dem ganzen mythischen Kontext, in dem das mythisch-homerische Naturerleben steht, mehr als deutlich erhellen.

3. Die christlich-mittelalterliche Spaltung des Genius Loci in Ortsdämon und Ortsheiligen

Mit dem Ende der Antike, sprich: mit dem Beginn des Christentums, wandelt sich die Bewertung des mythischen Genius-Loci-Begriffes. Es ist v.a. der christlich-monotheistische Schöpfungsgedanke, der die Genii Locorum als abgeleitete, abgefallene Phänomene erscheinen läßt. Damit einher geht die Dämonisierung der Ortsgeister. Es ist die christliche Eschatologie, die ferner die Genii Locorum als erlösungs- und d.h. auch auflösungsbedürftig erscheinen läßt. Trotz all dieser Tendenzen wird die daimonische Wirklichkeit der Ortsgeister nicht angezweifelt, allein ihre Bewertung wandelt sich.

Das zwiespältige Verhältnis des mittelalterlichen Christentums zum Genius Loci kommt nicht nur in der Geschichte der Wallfahrtsstätten - der heiligen Orte des Christentums - sondern auch im Volks-(aber-)glauben deutlich zum Ausdruck. Bei den ersteren handelt es sich meist um einen ins Christliche transformierten, von daher mehr oder weniger akzeptierten, bei letzterem um einen dämonisierten, aus christlicher Sicht inakzeptablen Genius-Loci-Kult. Ein Beispiel für ersteres wäre die Wallfahrtskirche der heiligen Edigna bei Puch (Fürstenfeldbruck) mit der "tausendjährigen" Linde und ihrem dazugehörigen Kult und der dazugehörigen ätiologischen Legende. Ein Beispiel für zweites wäre der Teufelsberg in der Aubinger Lohe im Münchener Westen: ein Ort, an dem, durch zwei keltischen Vierecks-Kulttempel, ein vorchristlicher, polytheistischer Lokalkult bezeugt ist. Dieser Ort wurde nun nicht zum Wallfahrtsort "umgetauft", sondern verteufelt.

3.1. Das christliche Überbauungsverhältnis

Werfen wir einen Blick auf das Heraion von Samos zum Ende der Antike. Das mythische Zeitalter neigt sich seinem Ende, das christliche dominiert. Der christliche Logos bekämpft den Mythos. Christliche Eiferer wie Firmicus im 4. Jh. folgen der Maxime.- "Haut sie zusammen, mit dem Beil zusammen, diese Tempelzierden! Zur Schmelze, zur Münze mit diesen Göttern! Alle Weihegeschenke sind euer, nehmt und braucht sie. " Das Hera-Heiligtum mit dreitausenjähriger Tradition wird von solchen Eiferern zerstört. Der uralte Kultbaum gefällt von christlicher Hand. Auf dem Altar brennt schon längst kein Opferfeuer mehr, kein Stein ruht auf dem anderen. Aus den Trümmern wird, direkt neben dem ehemaligen Kultort, im 5. Jh. eine frühchristliche Basilika gebaut. Sie ist, wie die meisten Kirchen, nach Osten gerichtet, wo die Sonne, das Sinnbild des Christus-Logos, aufgeht. Der konkrete Bezug zum Ort ist gelockert, der Kultbaum erfährt schon längst keine Verehrung mehr, der Genius Loci ist wenig relevant. Mit gestrichelter Linie ist in nachfolgender Zeichnung die Stelle markiert, an der früher der Altarbezirk mit Kultbaum war.

Hier kann man nicht mehr von einem Überformungsverhältnis sprechen. Eher müßte man (wieder in loser Analogie zu Nicolai Hartmanns Schichttheorie) von einem Überbauungsverhältnis sprechen. Denn es zeigt sich klar - und darin liegt der Unterschied zum Überformungsverhältnis - dass beim Übergang von der mythischen Schicht in die christliche Wesentliches verloren geht. Es handelt sich nicht mehr um die gleiche kategoriale Struktur: der christliche Logos ist kategorial anders strukturiert als der antike Mythos: er ist noetisch, d.h. geistig strukturiert. Die Grundkategorien des christlichen Geistes - um nur einige zu nennen - aber sind: Einheit, Weltüberwindung, radikale Transzendenz, Sinnes- und Leibesfeindschaft (damit einhergehend Bilder- und Ortsfeindschaft), radikaler Monotheismus. Sie stehen den mythischen Kategorien - Vielheit, Welthaltigkeit, radikale Immanenz, Sinnes-und Leibesfreude, undogmatischer Polytheismus - diametral gegenüber. Von Überbauungsverhältnis zu sprechen, bietet sich auch deshalb an, weil das christliche Weltverhältnis stark durch einen theologisch-geistigen Überbau dominiert und bestimmt ist. Und ganz konkret legt die Tatsache, dass viele Kirchen über heidnischen Kultstätten gebaut wurden - jene überdeckend, transformierend, überbauend - die Rede von einem Überbauungsverhältnis nahe.

Jedoch: Kein Überbauungsverhältnis bricht in allen Aspekten total mit den älteren Schichten. Darauf weist auch Hartmann hin. Seine Worte können hier direkt in unseren Zusammenhang übertragen werden: "So durchbricht eine ganze Reihe von Kategorien das Überbauungsverhältnis und macht es zu einem Überformungsverhältnis im kleinen - aber auch nur im kleinen, denn das Überformungsverhältnis verlangt, daß alle Kategorien durchdringen. Und das ist hier eben nicht der Fall. "

In unserem Beispiel bedeutet das, dass die Basilika ja immerhin noch am gleichen Ort errichtet wurde, also die Kontinuität des Ortes bewahrte; ja sogar aus den gleichen Steinen, wie die Vorgänger-Tempel ist sie erbaut. Und womöglich - und das ist bei vielen Kirchen der Fall übernimmt ein Heiliger/eine Heilige die Rolle der früheren Lokalgottheit; womöglich wird die Kirche zu einer berühmten Wallfahrtskirche und die Wallfahrtsprozession übernimmt die Rolle der früheren Kultumzüge.

3.2. Das christlich-mittelalterliche Erleben des Genius Loci

Dieses Erleben war in letzter Konsequenz vertikal, hierarchisch-transzendierend, nach oben, zum einen Herrn und Schöpfer, christlich-platonisch gesagt in Richtung überhimmlischen Ort, gerichtet, und damit dem Mythos entgegengesetzt.

Doch eben nur: in letzter Konsequenz. Dieser letzten Konsequenz wurde jedoch nicht von allen vollzogen. Oftmals sogar nur von der kirchlich-intellektuelle Obrigkeit. Für alle anderen war das vergleichsweise mythische - mittelalterlich-volksreligiöse Ortserleben, wie es sich in Sagen und Beschwörungen von Lokaldämonen, in Legenden und Kulten von Ortsheiligen spiegelt, verbindlich.

Ein krasses Beispiel, das nicht zuletzt wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Trophonios-Orakel sehr erhellend ist, stammt aus dem Augustinerkloster Lough Derg und der dortigen Höhle des Hl. Patrick in der irischen Grafschaft Donegal. In einem See gelegen befindet sich dort eine zweigeteilte Insel. Der eine Teil eher fruchtbar und anmutig, der andere eher wild und öde. Im ersten Teil liegt das Augustinerkloster, im zweiten die Höhle, die auch "Fegefeuer des Hl. Patrick" genannt wird. Nach einer irischen Legende wurde der Hl. Patrick einst von Gott in diese einsame Gegend geführt und ihm diese Höhle gezeigt, mit dem Hinweis: "wer sie wohl vorbereitet durch [tagelanges Fasten, Beten und] die Sacramente betrete, und eine Tagnacht in ihr verweile, bestehe in ihr seine Reinigung; und seine Sünden würden ihm vergeben, während der Unbußfertige in ihr verderbe. Die Sage setzt hinzu: Einige, die sie besucht, seien nicht wiedergekehrt; die aber zurückgekommen, seien fortan im Glauben treu geblieben; hätten aber nimmermehr gelacht; weil das, was sie dort geschaut, ihnen alle Weltlust bitter gemacht. "

Ein gewisser Oenus wird "um das J 1152 [nach den rituellen Vorbereitungen] in der üblichen Weise in die Höhle gebracht, dort eingeschlossen, und muß nun nacheinander zehn Orte der Pein durchwandern. Was die Einbildungskraft irgend an Plagen und Martern ersinnen kann, ist hier ausgelegt; von Feuerdrachen sind Einige umwunden, andere über Schwefelflammen aufgehängt, noch andere in Bäder geschmolzenen Metalls versenkt; während wieder Welche bleich und als ob sie den Tod oder noch Ärgeres erwarteten, sich an die Gipfel eines Felsens anklammern, bis ein Sturmwind die Unseligen ergreifend, sie in einen unten vorbeifließenden eiskalten und stinkenden Strom hinabschleudert, indem auch der wandernde Ritter beinahe verdorben wäre, hätte ihn das Anrufen des Erlösers nicht gerettet. "

4. Neuzeitliche Rationalisierungen des Genius Loci

Mit dem Beginn der subjektzentrierten und rationalistischen Neuzeit geht die Rationalisierung, sprich: Entzauberung der Welt einher. Auch der Genius Loci wird entzaubert und zwar durch verschiedene rationale Reduktionen.

4.1. Rationalistische Reduktionen

Bei den aufklärerischen Denkern des 17. und 18. Jhdts. überwiegt die Tendenz, den Genius Loci, wie auch andere mythische Gestalten, in ihrem Charakter als eigenständige, originäre Phänomene zu negieren, sie als abgeleitete Phänomene, als Selbsttäuschung und/oder Betrug durch andere zu entlarven. Die aufklärerische Entlarvung bedient sich dabei teils explizit teils implizit dreier Argumentationsstrategien. Die erste versucht, den Mythos auf seiner vermeintlich historischen Kern zu reduzieren; die zweite versucht, den Mythos auf seine soziale Funktion zu reduzieren; die dritte, über weite Strecken und bis heute die einflußreichste, erklärt den Genius Loci als Projektion der frühmenschlichen Psyche in die unbelebte Natur. Die Frühmenschen hätten demnach, da ihnen ja die allein seligmachenden, aufgeklärten, naturwissenschaftlichen Erklärungen noch nicht zur Verfügung standen, alle angst- und staunenerregenden, machtvollen Phänome in der Natur allein durch in sie hineinprojizierte Geister- und Götterphantasmen erklären können (z.B. David Hume).

Alle drei Argumentationsstrategien finden sich, ineinander verwoben und unter dem Vorzeichen der "Priester-Betrugs-These", in der für die Genius-Loci-Problematik zentralen Schrift "Geschichte der Orakel" des seinerzeit einflußreichen Aufklärers Bernard le Bovier de Fontenelle wieder.

4.2. Das neuzeitlich-rationalistische Erleben des Genius Loci

Für einen aufklärerischen Mensch wie Descartes ist die Welt gespalten in Denkdinge (res cogitans) und Stoffdinge (res extensa). Alles was nicht denkt, was also kein denkender Mensch ist (Gott als oberste Denkzentrale freilich ausgenommen) ist unbeseelter Stoff. Auch Pflanzen und Tiere (und auch der Mensch, allerdings nur, sofern er auch ein leibliches und kein denkendes Wesen ist) sind Maschinen aus Erde. Die Welt ist eine machina mundi (Weltmaschine). Der oberste Mechanikus, nämlich Gott, hat zum Beginn der Welt diesen ganzen Mechanismus gebastelt und aufgezogen, um ihn dann zu starten. Wie eine aufgezogene Uhr, deren Räder abschnurren, so stellt man sich dann weiteren Weltlauf vor.

Wenn so ein Denkding-Mensch in die Welt schaut, in die Natur und Landschaft blickt, erblickt er folglich nur leblose Materie. Da sie leblos und damit gewissermaßen sinnlos und geistlos ist, ist es unnötig, nach einem Geist eines Ortes zu fragen. Erleben läßt er sich da draußen nicht, außer ein Mensch hat seinen Geist, d. h. die rationale Ordnung seines Geistes der Natur aufgezwungen. D. h. Orte bekommen nur Geist, Seele, Charakter durch den Menschen, Kann man hier von einem Erleben eines vorgefundenen, natürlichen Ortes sprechen? Ich glaube nicht. Deshalb ist die aufklärerische Neuzeit - zumindest wo sie ihrem konsequenten Rationalismus treu bleibt - hinsichtlich der ursprünglichen, d. h. mythischen Genius-Loci-Problematik wenig ergiebig.

Kurz:Die Aufklärung ist eine Zeit, die für Kultorte. und Wallfahrtsstätten wenig Sinn hatte, wie der deutsche Aufklärer Friedrich Nicolai deutlich zeigt: " Wallfahrtsort Mariahilf a. d. Donau: Man sieht sogar nicht selten Wallfahrer, die zufolge eines getanen Gelübdes den hohen Berg auf den Knien heraufrutschen... Es ist doch leicht zu erachten, daß bei einer solchen langen Reise auf den Knien die Haut zerfleischt werden muß. Und wozu soll dies nützen?

4.3. Das neuzeitliche Verplanungsverhältnis

Ein Beispiel, an dem man die aufklärerische Art des Umgangs mit der Natur sehr deutlich sehen kann, an dem man auch erkennen kann, dass diese Zeit nicht wirklich an einem Naturerleben interessiert war, ist der französische Garten. Und zwar genau dort, wo er am reinsten verwirklicht wurde, in Versailles. Der Grundriss des Schlossparks zeigt deutlich, dass man nicht an dem vorgefundenen Ort und seiner numinosen Ausstrahlung interessiert war. Vielmehr galt es die Souveränität und Willensmacht des (höchsten) Menschen (des Sonnenkönigs Ludwig XIV) zu demonstrieren. Der menschliche Geist zwingt seine rationalgeometrischen Entwürfe dem Ort auf. Wie sich das konkret auswirkt, zeigt folgendes Zitat: "Um diese Kunstlandschaft, zu schaffen mußte die alte, vorhandene beseitigt werden. Die [teilweise ur-) alten Bäume, Reste der bäuerlichen Weidelandschaft, mußten fallen. Sie wurden an Ort und Stelle zerteilt. Geländeunterschiede mußten mit Schaufel und Spaten planiert werden. EinSystem von Gräben und Kanälen war notwendig, um das Bewässern der riesigen Gartenanlagen zu sichern. Vierzig Jahre lang war in Versailles ein Heer von Gärtnern und Arbeitern dabei, ... diese Anlagen zu gestalten, zu pflegen und immer wieder umzubauen. ... Ein Kritiker Ludwig XIV., Saint-Simon, ... nennt es, das arrogante Vergnügen, der Natur seinen Willen aufzuzwingen'. ... Dem Menschen, dem König, war nicht nur das freie Wachsen der Pflanzen, das ungehinderte Fließen der Gewässer und die Natürlichkeit der Geländeformen unterworfen, auch die Tiere hatten sich seinem Willen zu beugen. Das demonstrierte der Sonnenkönig mit seiner, Ménagerle Royale de Versailles'. In Käfiganlagen, gestaltet nach ästhetisch-architektonischen Gesichtspunkten, nicht nach den Bedürfnissen der Tiere, wurden hier die 'Bestien' zur Schau gestellt. "

Wir sehen, es handelt sich hierbei um ein - im Vergleich zum christlichen Verhältnis zum Genius Loci - nochmals radikalisiertes Überbauungsverhältnis. Um es von dem christlichen Überbauungsverhältnis, von dem es sich ja qualitativ unterscheidet, abzuheben, nenne ich es das Verplanungsverhältnis. Dies aus zwei Gründen : zum einen reduziert es den vorgefundenen Ort, die vorgefundene, gewachsene Landschaft zu einer rein abstrakten Planfläche, einem Planquadrat, an dem die jeweiligen geistig-logischen, architektonischgeometrischen Koordinaten angelegt werden können; zum anderen muss es - um die Planfläche in die Realität umsetzen zu können - die vorgefundene Wirklichkeit regelrecht plan machen, d.h. planieren, einebnen, nivellieren; d.h, die Eigenart zunächst zerstören.

 

5. Die Romantisierung des Genius Loci

Es ist das Zeitalter der Romantik, in dem das antike und mittelalterliche Konzept des Genius Loci wieder Eingang in Kunst und Wissenschaft findet; dies freilich unter romantischen Vorzeichen, unter Vorzeichen also, die zwischen den Polen Verklärung und Entbergung schwanken. V.a. in der romantischen Psychologie des C. G. Carus und G. H. v. Schubert hat sich ein seelisches Verständnis des antiken Phänomens des Genius Loci ausgeprägt , das zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist und erst über ein halbes Jahrhundert später durch L. Klages und C. G Jung wieder Eingang in die wissenschaftliche Diskussion fand.

An der Entwicklung des sogenannten englischen (Landschafts-) Gartens - der im Zuge der Empfindsamkeit als natürlicher Alternativentwurf zum geometrischen französischen Garten im 18. Jh. entstanden ist und dann im Zeitalter der Romantik zur vollen Blüte kam - lassen sich die praktischen Konsequenzen zeigen, die die romantische Rückbesinnung in Bezug auf den Genius Loci mit sich brachte. Zunächst ein Blick auf den Grundriss des englischen Gartens in München. Er zeigt, wie die Planung hier auf die Landschaft Rücksicht nimmt, wie man mit organischen Formen und Strukturen arbeitet. Einordnungsverhältnisse und Über- formungsverhältnisse werden wieder möglich. Noch deutlicher zeigt sich das an einem der berühmtesten mitteleuropäischen Landschaftsgärten, dem englischen Garten des Hermann Fürst von Pückler-Muskau in Muskau / Oberlausitz (Entstehungsphase 1815-45). Die vorgefundene Landschaft wird zwar überformt, aber nicht deformiert. Sie wird eher in ihrem Charakter hervorgehoben. Dass man sich dabei durchaus auch überlieferter Techniken traditioneller Landschaftsmalerei bedient, steht hierzu nicht im Widerspruch, ganz im Gegenteil. Selbst wenn eine heroische, klassische oder melancholische Ansicht inszeniert wird, so doch nicht an der vorgefundenen Landschaft vorbei. Alte heilige Bäume dürfen stehen bleiben, bzw. werden landschaftsgestalterisch in ihrem Eindruck verstärkt, inszeniert.

6. Phänomenologische Entbergungen des Genius Loci

Nach dem (unter aufklärerischen Vorzeichen stehenden) Zeitalter des Positivismus, das die romantischen Tendenzen der Entbergung des ursprünglichen Genius-Loci-Konzeptes mit den Schlagworten Naturwissenschaft, Technik, Fortschritt, Evolution in die Vergessenheit abdrängte, setzte Anfang des 20. Jahrhunderts eine Neubesinnung auf die unreduzierten Phänomene des Lebens und der menschlichen Existenz ein. Im Zuge dieser Neubesinnung kam es zur phänomenologischen Wiederkehr des Genius Loci. Folgende theoretische Ansätze sind hier von Bedeutung:

1. Das lebensphilosophisch-phänomenologische Konzept der "Erscheinungswesen" eines Ortes von L. Klages
2. Das tiefenpsychologisch-phänomenologische Konzept der ortsgebundenen "archetypischen Erscheinungen" von C. G. Jung
3. Das existenzphänomenologische Konzept des "Wesens eine Ortes" von M. Heidegger
4. Das leibphänomenologische Konzept ortsgebundener, "räumlich ergossener Atmosphären " von H. Schmitz

Lediglich ein beispielhaftes Zitat, nämlich von Ludwig Klages, soll zeigen, wie sehr man sich im Umkreis der phänomenologischen Bewegung wieder auf das unverdeckte Phänomen des Genius Loci einließ: "Die Alten," so Klages, "kannten den genius loci, den Nimbus, die Aura, und auch wir noch sprechen von der Atmosphäre eines Menschen, eines Hauses, einer Gegend. Nun, diese Atmosphäre, von so genannt sensitiven Naturen erlauscht, von feinfühligen gespürt, robusteren Gemütern unbekannt, ist eine wirkende Wirklichkeit, gebend und bereichernd oder saugend und schwächend, umfangend und erwärmend oder aushöhlend und erkältend, beschleunigend und erregend oder hemmend und dampfend, ausweitend oder einengend beflügelnd oder lähmend, ... "

Weil Heideggers existenzphänomenologisches Konzept des Wesens eines Ortes der in Architekturtheorie und Humangeographie am meisten rezipierte Ansatz ist, möchte ich hier näher darauf eingehen. Dieser Ansatz ist nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil er, freilich auf ganz eigentümliche Art und Weise, die bisher skizzierte Kulturgeschichte des Genius Loci nochmals bedenkt. Das Schwergewicht dieses Ansatzes liegt - und den, der die Heideggersche Vorliebe für die frühe klassische Antike kennt, wundert das nicht - im Bereich des mythisch-homerischen Überformungsverhältnisses. Als Beispiel diene die Heideggersche Interpretation des griechischen Tempels: "Ein Bauwerk, ein griechischer Tempel, bildet nichts ab. Er steht einfach da inmitten des zerklüfteten Felstales. Das Bauwerk umschließt die Gestalt des Gottes und läßt sie in dieser Verbergung durch die offene Säulenhalle hinausstehen in den heiligen Bezirk ... Dastehen ruht das Bauwerk auf dem Felsgrund. Dies Aufruhen des Werkes holt aus dem Fels das Dunkle seines ungefügen und doch zu nichts gedrängten Tragens heraus. ... Das Unerschütterliche des Werkes steht ab gegen das Wogen der Meerflut und läßt aus seiner Ruhe deren Toben erscheinen. Der Baum und das Gras, der Adler und der Stier, die Schlange und die Grille gehen erst in ihre abgehobene Gestalt ein und kommen so als das zum Vorschein, was sie sind. "

In seinem Aufsatz "Bauen Wohnen Denken" von 1951 hat Heidegger am Beispiel einer Brücke veranschaulicht, was seiner Ansicht nach das Wesen eines Bauwerkes ist. Die Brücke ist nach Heidegger ein Ding. Ding hier in einem speziellen Sinne als das, was das Wesen auf den Punkt bringt, konzentriert oder, wie Heidegger sagt "versammelt". "Die Brücke ist freilich ein Ding eigener Art; denn sie versammelt das Geviert [von Erde, Himmel, Göttlichem und Menschlichem] in der Weise, daß sie ihm eine Stätte verstattet. Aber nur solches, was selber ein Ort ist, kann eine Stätte einräumen. Der Ort ist nicht schon vor der Brücke vorhanden. Zwar gibt es, bevor die Brücke sieht, den Strom entlang viele Stellen, die durch etwas besetzt werden können. Eine unter ihnen ergibt sich als ein Ort und zwar durch die Brücke. So kommt denn die Brücke nicht erst an einem Ort zu stehen, sondern von der Brücke selbst her entsteht erst ein Ort. Sie ist ein Ding, versammelt das Geviert, versammelt jedoch in der Weise, daß sie dem Geviert eine Stätte verstattet. Aus dieser Stätte bestimmen sich Plätze und Wege, durch die der Raum eingeräumt wird. ... Demnach empfangen die Räume ihr Wesen aus Orten und nicht aus 'dem' Raum "

D.h. das Bauwerk ist ein versammelndes Ding. Es konstituiert den Ort und hebt ihn dadurch von der bloßen Stelle ab. Auf diesen Abschnitt haben sich nun konstruktivistische Architekturtheoretiker berufen, um einer reinen Entwurfsarchitektur das Wort zu reden. Erst durch den architektonischen Entwurf würden Orte und damit auch Landschaften als charakteristische konstituiert oder besser: konstruiert. So z. B. Dörte Kuhlmann, die zur Ansicht tendiert, der Genius Loci, das Wesen eines Ortes, sei "nicht primär vorhanden, sondern wird erst durch die Architektur aufgedeckt und konstituiert. Der Ort wird mittels des künstlichen Eingriffes von seiner Umgebung individuiert und erhält dadurch seinen spezifischen Charakter, ... " Ja, wie Kuhlmann meint, scheint dem Genius Loci deshalb nur " ein sekundäres Moment oder vielleicht sogar ein parasitärer Charakter " zuzukommen.

Wenn diese Interpretation von Kuhlmann den entscheidenden Punkt träfe, würde es bei Heidegger nicht um ein Überformungsverhältnis, sondern um ein Uberbauungsverhältnis handeln. Denn erst im Überbauungsverhältnis tritt mit der menschlichen Gestaltung etwas völlig Neues, ein neues Prinzip an diesem Ort, bzw. an dieser Stelle ein. Entwurfsarchitektur setzt frühestens auf der Ebene des Überbauungsverhältnisses ein, oft auf der des Verplanungsverhältnisses.

Eine tiefer dringende Heidegger-Lektüre ergibt jedoch ein anderes Bild; sie zeigt, dass wenngleich auch der existenzielle Ort, denn um den handelt es sich bei Heidegger schließlich, erst mit dem architektonischen Ding entsteht - der natürliche, naturgegebene Ort - oben von Heidegger Stelle genannt - vorgängig schon immer da ist. Dies natürlich nicht im gegenständlichen Sinne, sondern im phänomenologischen. Ein Blick in den Dialog "Zur Erörterung der Gelassenheit": hier versucht Heidegger das Wesen der Gegend, man könnte auch sagen, der Landschaft, zu bestimmen. Er hat für diese Art der landschaftlichen Gegend den Namen Gegnet geprägt, um damit auszudrücken, dass es hier um etwas Wesentliches geht, das einem begegnet, wenn man sich darauf einlässt. Dort heißt es nun:

"L: Wie sollen wir also den Bezug der Gegnet zum Ding benennen, wenn die Gegnet das Ding in ihm selbst als das Ding weilen läßt?
F: Sie bedingt das Ding zum Ding.
G: Sie heißt daher am ehesten Bedingnis.
F: Aber das Bedingen ist kein Machen und Bewirken; auch kein Ermöglichen im Sinne des Transzendentalen...
L: sondern nur die Bedingnis.
F: Was das Bedingen ist, müssen wir also erst denken lernen... L: indem wir das Wesen des Denkens erfahren lernen...
G: mithin auf Bedingnis und Vergegnis warten. "

D.h.: das architektonische Ding, in unserem Beispiel die Brücke, wird erst zu einem, den Ort versammelnden Ding, indem es durch den vorgängigen natürlichen Ort, die Gegnet, dazu bedingt wird. Damit ergibt sich: Die primäre Basis des Genius Loci ist die besinnliche Begegnung mit der Gegend im Sinne eines Einordnungsverhältnisses. Erst dadurch wird das nächste Verhältnis möglich, das gerade deshalb, weil es auf dem Einordnungsverhältnis ruht und von ihm wesentlich bedingt wird, ein Überformungverhältnis ist.

Der Architekturtheoretiker Christian Norberg-Schulz hat in seinem, auf den Arbeiten Heideggers aufbauenden Buch "Genius Loci - Landschaft, Lebensraum, Baukunst" eine Heidegger-Interpretation gegeben, die in die ähnliche Richtung zielt: "Der existentielle Zweck des Bauens (Architektur) ist es deshalb, aus einer Stelle einen Ort zu machen, das heißt, den potentiell in einer gegebenen Umwelt vorhandenen Sinn aufzudecken. "

Dies geht aber nicht ohne dass man sich auf das Spezifische, das man "vor Ort" immer schon vorfindet, einlässt, ihm begegnet. Dieses Spezifische nennt Norberg-Schulz den "Charakter": "Ein letzter und besonders wichtiger Schritt wird mit dem Begriff ,Charakter' vollzogen. Charakter ist durch das Wie der Dinge bestimmt und verankert unsere Untersuchung in den konkreten Phänomenen unserer alltäglichen Lebenswelt. Nur so läßt sich der genius loci ganz erfassen - jener , Geist, der an einem Ort herrscht' und der in der Antike als ,Gegenüber' verstanden wurde, mit dem der Mensch sich einigen muß, will er das Wohnen vermögen."

7. Der alte Südfriedhof in München und Ania Thea Bayer - Ortsbekundung "Rote Asche gibt es nicht"

Ich habe mich bisher v.a. auf idealtypische Konzepte und mehr oder weniger idealtypische Beispiele beschränkt, um eine kleine Kulturgeschichte des Genius Loci zu geben. Wenn ich jetzt auf den am alten südlichen Friedhof in München und das künstlerische Projekt "rote Asche gibt es nicht" von Anja Thea Bayer zu sprechen komme, begehe ich keine Themaverfehlung. Ganz im Gegenteil: mit diesem Projekt befinden wir uns mitten in der Genius-Loci-Thematik. Denn hier geht es in ausgezeichneter Weise um den Ort und seinen Geist; hier begegnet uns die Kulturgeschichte des Genius Loci konkret. Dieser Ort hat Geist, hat Charakter, hat Atmosphäre, hat Tiefgang - und zwar in einem ganz einzigartigen, von ihm nicht ablösbaren Sinn. Dieser Ort hat zudem auch etwas Unnahbares, hat etwas, das nicht in Begriffsschubladen unterteilt werden kann. Dieser Ort hat auch etwas Befriedendes, Versöhnendes und zwar so, wie auch der Tod befriedet, versöhnt: nämlich mit einem wehmütig-bitteren Unterton. Dieser Ort hat eine faszinierende, tiefgehende Ausstrahlung. Das ist m. E. deutlich spürbar, erlebbar. Doch die Frage ist: Wieso hat er das? Meine Antwort - welche zunächst nicht mehr als eine vorläufige Hypothese zu sein beansprucht - lautet: Dieser Ort hat eine enorme Ausstrahlung und Bedeutungstiefe, weil sich an ihm eine Vielzahl geschichtlicher und natürlicher Bedeutungen eingraben, einzeichnen konnten, weil hier, auf engstem Ort, nicht nur Raum für ein Verplanungs- und Überbauungsverhältnis, sondern auch für ein Überformungs- und Einordnungsverhältnis ist. Der Friedhof bringt beim Besucher viele Bedeutungssaiten zum klingen. Der alte Südfriedhof hat etwas durch und durch Gewachsenes an sich. Er ist hierin einem alten Baum vergleichbar: mit seiner Krone überschattet er unser heutiges Dasein und zugleich reicht er mit seinen Wurzeln bis in den Mythos hinab.

Dies sei kurz erläutert: Die Menschen, die in diesem Friedhof wandeln, sind die Großstadtmenschen unserer Zeit: Ruhesuchende, Verliebte, Betrunkene, eilig Schreitende, Nachdenkliche, Einsame, usw.. Die Geräusche die über die Friedhofsmauer hereindringen, sind die Geräusche unserer Zeit: Motorengebrumm, Musikfetzen, Menschenstimmen, Tramgebimmel, Geräusche von Straßenarbeitern, usw.: ein Friedhof mitten in unsere Zeit, ein Friedhof, der mit seinen Baumkrone unser heutiges Dasein überschattet.

Mehr: die Anordnung der Wege und überhaupt der geometrische Grundriss des Friedhofs erinnert an die französischen Gärten mit ihrer klaren, geometrischen Struktur.

Doch das ist nur ein leiser Anklang und das Gefühl, das sich in Bezug auf echte Verplanungsverhältnisse einstellt, mag hier nicht in seiner Radikalität und Ausschließlichkeit aufkommen. Zur sehr hat Geschichte und Natur das, was einmal geplanter Entwurf, was einmal rationale Ordnung war überformt.

Betrachten wir weiterhin die Gesamtform des alten Teils des Friedhofs: sie gleicht einem Sarg und ist damit auch Ausdruck eines Überbauungsverhältnisses: nämlich des christlichen, das sich an diesem Ort mit aller Deutlichkeit eingegraben, eingezeichnet hat. Diese Sargform weist über den Ort hinaus an den überhimmlischen Ort des christlichen Jenseits. Dieser christlich-weltflüchtige Eindruck herrscht ja auch sonst im Friedhof vor: wenn man durch die Gräberreihen geht, umweht einem eine andere Zeit, eine andere Stimmung: die christlichen Grabdenkmäler mit ihren Engeln, Kreuzen, Marienfiguren, mit ihren Sprüchen "Hier ruhen in Gott", "Hier ruhen in Frieden", "Wiedersehen unser Trost, Im Kreuz ist unser Heil" oder - wie auf der Grabstätte der Familie Jaumann zu lesen -"Die am Abend freudig sich umfassen, / Sieht die Morgenröte schon erblassen, / Selbst der Freundschaft und der Liebe Glück, / Lässt auf Erden keine Spur zurück." etc. etc. beschwören eine Zeit, in der die christliche Weltsicht noch viel verbindlicher, bindender war wir heute, sie rufen uns ein "memento mori" zu, und beschwören damit eine christlich-abendländische Tradition die über den Barock zurück ins Mittelalter reicht.

Dieser Eindruck wird nicht zuletzt durch die teilweise verwitterten, schrägstehenden, überwachsenen, verkommenen Grabsteine hervorgerufen. Man fühlt sich an die romantischen Gemälde Caspar David Friedrichs, z. B. an das unvollendet geblieben Gemälde "Der Friedhofseingang" von 1825 oder an das Bild "Klosterfriedhof im Schnee" von 1817/19, erinnert; und damit zugleich an das vergangene und aus den Ruinen dennoch hervorleuchtende Mittelalter. Gerade die romantische, sich ins Mittelalter zurücksehnende Bedeutungskomponente ist mit dem Friedhof engstens verknüpft. Liegt das vielleicht auch daran, dass die sterblichen Überreste eines Franz von Baader, Carl Spitzweg, Moritz von Schwind und Joseph von Görres hier liegen, ihre sehnsuchtsvollen Seelen hier immer noch geistern?

Ich spreche von geisternden Ahnenseelen: Damit habe ich die Schwelle vom Mittelalter in den Mythos schon betreten: denn der Ahnenkult stellt eine der Hauptwurzeln des Mythos dar. Und der Ahnenkult im mythischen Sinne hat, wenn überhaupt in München, dann hier seinen Ort. Wo sonst lässt sich ein Ort finden, an dem die Genien der Ahnen, die zum heutigen Genius Loci Münchens einen bedeutenden Beitrag leisteten, so präsent sind?

Das Verplanungs- und Überbauungsverhältnis, das auch in diesem Friedhof seine Spuren hinterlassen hat, ist zum Glück nicht zu ausgeprägt: es läßt immer wieder Raum und kleine Nischen, in denen sich Überformungsverhältnisse und Einordnungsverhältnisse zeigen können. Auch das ist ein Zeichen für die mythischen Bedeutungen, die an diesem Ort mitschwingen und mitschwingen können. Bei manchen Grabdenkmälern hat man regelrecht das Gefühl, dass sie am rechten Ort stehen, gleiches gilt für einige Bäume, die nicht nur durch ihr Alter und individuelle Gestalt beeindrucken, sondern auch durch den Ort, an dem sie stehen. Dass der Friedhof nicht nur unter Denkmal- sondern auch unter Naturschutz steht, kommt den Selbstgestaltungskräften der Vegetation natürlich sehr zu gute.

Dass in diesem Friedhof auch Raum für Überformungs- und Einordnungsverhältnisse ist, zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass so etwas wie Anja Thea Bayers künstlerische Ortsbekundung hier möglich ist. Mehr noch: die Ortsbekundung selbst legt Kunde ab, von der Bedeutungstiefe und Einzigartigkeit dieses Ortes: Der Punkt, an dem die Symmetrie und das Verplanungsverhältnis dieses Ortes zerbricht, wird durch den mit "Aachener Rother Erde" ausgelegten Weg markiert. Hier zerbricht - um mit Heidegger zu reden - die Logik des "(be)rechnenden Denkens": ein "besinnliches Nachdenken" setzt ein, ein Denken, das, bevor es später durch den abendländischen Logos und seinen mittelalterlichen und neuzeitlichen Ableger überbaut und verplant wurde, in der mythischen Antike leibte und lebte. Ein besinnliches Nachdenken, das es vermag, an diesem Ort und mit Hilfe dieses Ortes die zahllosen Verplanungs- und Überbauungsschichten, die uns sonst vom Geist des Ortes trennen, zu durchdringen, um so zum Genius Loci zu gelangen. Zu einem Genius Loci, dessen Heiligtum ein alter Friedhof, dessen Kultort ein roter Weg mit Eibe ist und dessen Name lautet: rote Asche gibt es nicht".

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2. Genius Loci - "Genius und Daimon" von Marco Bischof,
Hagia Chora Nr. 6/2000.

Einleitung

Der Begriff des Genius Loci ist seit einiger Zeit vielfach im Gespräch, vor allem seit ihn der norwegische Architekturtheoretiker Christian Norberg-Schulz 1980 in seinem gleichnamigen Buch zur Kennzeichnung seines phänomenologischen Ansatzes in der Untersuchung des Verhältnisses von Architektur und Landschaft verwendet hat. Er spielt nicht nur in der Geomantie eine Rolle, sondern wird in den verschiedensten Disziplinen, neben der Architekturtheorie unter anderem auch in der Humangeographie, Ökopsychologie, Garten- und Landschaftsgestaltung, Religionswissenschaft, Archäologie und Literaturwissenschaft verwendet. Bereits eine flüchtige Recherche zeigt, daß der Begriff auch im Internet in allen möglichen Zusammenhängen auftaucht, vom Prüfungsthema an Architekturabteilungen von Universitäten über die Namen von irgendwelchen Websites, deren Zusammenhang mit ihm nicht deutlich ersichtlich ist, bis zur Musikgruppe, die sich nach ihm nennt.

Robert Kozijanic weist darauf hin, dass dabei auf den ersten Blick der Eindruck entsteht, man hätte es immer mit den gleichen Begriffen, Ansätzen und Phänomenen zu tun, dass dieser Eindruck aber falsch ist. "Es handelt sich um verschiedene Diskurse, die jeweils unter Genius loci etwas anderes verstehen. Die Palette dessen, was Genius loci sein soll, reicht dabei von der rein metaphorischen und rhetorischen Bedeutung des Wortes über die geschichtliche eines an einem Ort erscheinenden "Zeitgeistes" und eines soziokulturell konstruierten "Ortsgeistes", ferner über die Bedeutungen von ökologischen, ästhestischen und synästhetischen Qualitäten von Orten bis hin zu ortsgebundenen "Energiefeldern" und "ortsansässigen" Naturgeistern".

Mir scheint, dass der Grund für diese Vielfalt von "Diskursen", d.h. Denk- und Sprechweisen, über den Genius loci zumindest teilweise darin liegt, dass nur wenige versuchen, die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes in der antiken Kultur zu verstehen und der Begriff deshalb zum unscharfen Behälter für unzählige Projektionen werden konnte. In altertumswissenschaftlichen Nachschlagewerken und Fachbüchern über römische Religion findet sich zwar recht vieles über den lateinischen Begriff des "Genius", jedoch nur Spärliches über den spezifischen "Genius loci". Es bleibt deshalb die Aufgabe, herauszuarbeiten, was am Konzept des "Genius" für den ortsbezogenen Genius, und damit für die Geomantie, von grundsätzlicher Bedeutung ist. Dies versucht der Autor im Folgenden unter Heranziehung der griechischen Entsprechung zum "Genius", dem "Daimon".

Der römische Genius

Das lateinische Wort "genius" ist von dem Verb "genere" bzw. "gignere" (zeugen, erzeugen) abgeleitet und bedeutet "derjenige (oder dasjenige), der/das (er)zeugt, der/das Zeugende, oder auch "dasjenige, was zeugungsfähig macht". Jeder Mensch hat seinen/ihren Genius; ursprünglich wurde der Begriff wohl für beide Geschlechter verwendet, später nur noch für den Mann, während als weibliche Entsprechung den Frauen eine "Juno" zugeschrieben wurde. Juno bedeutet "junge Frau" und ist die weibliche Form des Wortes "juvenis". Der Genius eines Menschen tritt zusammen mit diesem ins Leben; sein Fest ist deshalb der Geburtstag. Beim Genius wird geschworen, und neben den Festen des "genius natalis" (des persönlichen Geburtsgenius), die im Hause der Betreffenden mit Wein, Kuchen und Weihrauch auf bekränztem Altar, mit Tanz und gelegentlich auch mit blutigen Tieropfern begangen werden, wurde dem Genius, zusammen mit den Göttern Tellus (Erde) und Silvanus (Waldgott) im Herbst auch eine sakrale Feier mit Blumen- und Weinopfer gewidmet. Dem genius natalis wurde dabei für das neue Jahr gedankt und Wünsche für die Zukunft vorgetragen. Er wird meist als Schlange abgebildet, die sich oft um einen Altar windet und die darauf liegenden Opfergaben verzehrt, wie in dem abgebildeten Wandgemälde aus Herkulaneum. Abbildungen als Jüngling mit Füllhorn, der meist beim Darbringen von Opfern dargestellt wird, oder als jünglingshaftes Flügelwesen, kommen auch vor.

Später, in der christlichen Zeit, verschmolz der Genius mit dem "Schutzengel". Einen Genius haben auch Gruppen von Menschen, wie z.B. Handwerkergilden und Truppenteile, der römische Staat, die Stadt Rom und schließlich Orte, Landschaften und sogar einzelne Gebäude.

Über den Genius, der zu den wichtigsten und ältesten Bestandteilen der römischen Religion gehört (W.F.Otto), findet man in der altertums- und religionswissenschaftlichen Fachliteratur teilweise widersprüchliche Beschreibungen und Deutungen. Einig sind sich die Experten darüber, dass er für die Römer einerseits eine Art Gott oder ein göttliches Wesen im Menschen, und deshalb unsterblich, andererseits Begleiter und Schutzgeist (tutela) war. Nicht klar ist u.a. seine Lokalisierung, da er manchmal außerhalb des Körpers, manchmal auch im Körper befindlich gedacht wurde. Der Genius hat sicher mit der Zeugungsfähigkeit zu tun und ist deshalb auch der Schutzgott des Ehebettes (lectus genialis). Was es hingegen bedeuten soll, dass der Genius den Menschen zeuge, ist wieder weniger deutlich; wir lesen, daß durch seinen Hinzutritt das individuelle Leben entstehe, das er auch fortwährend erhalte. Zudem heißt es von ihm, dass er beim Tod des Menschen auch sterbe, doch gleichzeitig hört er dann nicht zu existieren auf: er scheidet nur aus dem Weltleben aus und wird zum Begleiter der Totenseele.

Bevor ich näher auf diese Unklarheiten zu sprechen komme, möchte ich zunächst bei den deutlicheren Eigenschaften des Genius verweilen. Wie Roscher schreibt, ist der Genius nicht nur Zeugungsfähigkeit, Kraft, Energie, Schicksal und Glück eines Mannes, sondern begann schon früh in erweiterter Bedeutung für "alle leitenden, bestimmenden Triebe im Manne, seinen Glückseligkeitstrieb, seine gesamte Persönlichkeit und seinen Charakter" zu stehen. Als göttlicher Schutzgeist ist der Genius dasjenige in uns, was unsere Entschlüsse bestimmt, und deshalb unser Schicksal und Glück. Er bestimmt den individuell verschiedenen Charakter des Menschen und die glückliche oder unglückliche Hand in der Steuerung des Lebensverlaufs, Erfolg und Misserfolg. Er ist aber auch der Genusstrieb und die natürliche Lebenszuversicht und Lebensfreude im Menschen; einen "unbeschädigten Genius" (genius indemnatus) zu haben, heißt unbehelligt sein Leben zu genießen und alles zu tun, was den Genius erfreut. Wer diesem Lebensinstinkt nachgibt, gut isst und trinkt und dabei nicht knausrig ist, "indulget genio" (frönt dem Genius), wer es nicht tut, handelt "genio sinistro" (mit ungünstigem Genius). Geizhälse und Puritaner liegen im Krieg mit ihrem Genius. Das Eigenschaftswort "genialis" bedeutet neben "fruchtbar" auch "gastlich", "üppig", "von liberaler Gesinnung" und "großzügig".

Das griechische Daimon

Unter Fachwissenschaftlern ist man sich einig, daß das griechische "Daimon" (d a i m v n) die Entsprechung zum römischen Genius darstellt. Obwohl dies wohl bereits in einem gewissen Masse für das ursprüngliche römische Genius-Konzept zutrifft, sind im Laufe der massiven Beeinflussung der römischen Kultur durch griechische Einflüsse im Laufe der Zeit die meisten Eigenschaften des Daimon auf den Genius übertragen worden (W.F.Otto).Das Wort wird von d a i o m a i (daiomai, teilen, zerreissen) abgeleitet und von manchen Gelehrten als "Zerreisser, Fresser, (der Leichen)" gedeutet; wahrscheinlicher ist aber die Bedeutung "Zuteiler (des Schicksals), d.h. "das die m o i r a (Moira, Schicksal) Aktualisierende" (W.Pötscher). Jeder Mensch erhält bei der Geburt einen Daimon, der wie der Genius zugleich göttlicher Anteil des Menschen, eine Art Seelenteil und Schutzgeist ist, aber auch als Lenker und Bestimmer des Schicksals gilt und der nach dem Tod überlebende Teil des Menschen ist. Daimones sind für die Griechen deshalb auch die Geister der Toten, sowie die "Heroen", die unsterblichen Geister der Ahnen des Goldenen, Silbernen und heroischen Zeitalters, die als eine Art substantielles Zwischenglied zwischen Göttern und Menschen betrachtet werden. Wie der Genius, so ist der Daimon etwas Halbgöttliches, aber unbestimmter als der Gott. Ebenfalls einig sind sich Römer und Griechen darin, dass Genius und Daimon unbestimmte und geheimnisvolle, unkontrollierbare und unberechenbare Möglichkeiten und Potenzen im Menschen wie in der Natur darstellen, wobei bei den Griechen das Gefährliche und Unheilvolle des Daimon im Vordergrund steht, während der römische Genius eher als etwas Wohltätiges und Harmloseres erscheint. Auch das Daimon wird als Schlange abgebildet.

Genius und Daimon als überindividuelle Seelen-, Zeugungs- und Machtpotenz

Durch den Vergleich mit dem griechischen Daimon wird vieles deutlicher, was in den erwähnten Erläuterungen zum römischen Genius unklar bleibt. Zu einem sinnvollen Ganzen fügten sich diese Informationen für mich jedoch erst durch einige Bemerkungen des schottischen Altertumswissenschaftlers Herbert Jennings Rose und seines deutschen Kollegen Franz Altheim, besonders aber durch die tiefgündige Arbeit des englischen Sprachwissenschaftlers Richard B. Onians. Rose betont wie schon Walter F.Otto, dass der Genius als das zeugungsfähige Prinzip einerseits nicht im modernen Sinne von Männlichkeit und Sexualität, sondern im Sinne einer allgemeinen "Hervorbringungskraft" oder eines "Werdegeistes" und auch als eine Art "Persönlichkeitskraft"zu verstehen ist. Auf der anderen Seite stellt es auch nicht die individuelle Zeugungs- und Lebenskraft dar, sondern "das fortzeugende, die Familie von einer Generation zur anderen erhaltende Prinzip" (W.F.Otto). Rose betont, daß es "nur einen Genius pro Familie, ursprünglich wohl nur einen für jede 'gens' (röm. Geschlechtsverband, Sippe)" geben könne. Der Genius (und die Juno) sind "Geister, die zu keinem lebendigen oder toten Individuum gehören, sondern zum Clan" (Rose).

Genius und Daimon und die antike Persönlichkeitstheorie

Onians bringt in seinem immer noch unübertroffenen Werk über den archaischen "Ursprung des europäischen Denkens über Körper, Geist, Seele, Welt, Zeit und das Schicksal" von 1951 gegen die üblichen Darstellungen des Genius mit Recht den grundlegenden Einwand vor, daß die Persönlichkeit eines Menschen, seine Genussfähigkeit usw. eine Angelegenheit des bewussten Ich seien; beim Genius aber handle es sich nicht um den bewussten Teil des menschlichen Ich. Wir finden in seinem Buch denn auch eine spannende, wenn auch etwas verstreute Darstellung der antiken Anthropologie oder Persönlichkeitstheorie, die bei Römern und Griechen in ihren Grundzügen dieselbe ist. Ihre weitgehend sehr archaischen Züge, die Parallelen in vielen anderen alten Kulturen besitzen, sind für das Verständnis des Genius (und seiner griechischen Entsprechung "Daimon"), aber auch für dasjenige des Genius loci von grundlegender Bedeutung.

Nach römischem Glauben gibt es im lebenden Menschen zwei "Geister" oder Seelenteile, den Genius, der nach Onians der "anima" gleichzusetzen ist, und den "animus". Ihnen entsprechen bei den Griechen die "Psyche" (bzw. der "Daimon") und der "Thymos". Der Animus (bzw.Thymos), der in der Brust lokalisiert wird, stellt das bewusste Ich dar, Genius, Psyche und Anima hingegen das unbewusste Ich, das vitale Prinzip im Menschen, das für den archaischen und antiken Menschen im Kopf wohnte. Der Animus (Thymos) stirbt mit dem Körper, während der Genius (Anima, Psyche) den Tod überlebt.

Genius und Daimon als "Kopfgeister"

Dem Römer galt der Vorderkopf als dem Genius heilig; wer seinen Genius ehren wollte, berührte mit der Hand seine Stirn. Die Augenbrauen einer Frau, so hiess es, gehören der Juno. Die besondere Heiligkeit des Kopfes ist ein Kennzeichen der meisten archaischen Kulturen. Wie ich bereits in meinem Buch "Unsere Seele kann fliegen" (1985) dargestellt habe, wurde der Kopf von den Menschen der Steinzeit über Kelten und Germanen bis zu Griechen, Römern, Hebräern und Indern als Sitz von Seele und Lebensgeist, Zeugungskraft, Persönlichkeit und göttlicher "Macht" und deshalb als heilig betrachtet. Wie für Römer und Griechen sass auch für die Germanen das bewusste Ich in der Brust, das den Tod überlebende Seelenteil hingegen wurde im Kopf lokalisiert. Heirat, Verwandtschaft und Kameradschaft wurden als "Angelegenheiten des Kopfes" betrachtet; die Angelsachsen bezeichneten einen Gefährten oder Partner als "Kopf-Gefährten" (heafod-gemaeca), einen Sohn als 'heafod-maga' (Kopf-Sohn). Der Kopf war dem Freyr, dem Gott der Fortpflanzung und Fruchtbarkeit geweiht, dessen heiliges Tier der Eber war, weshalb der Helm des Kriegers einfach nur "Eber" hiess.

Den Römern galt der Kopf (caput) als Wohnstätte des Genius, als Behälter und Quelle des männlichen Samens und als Sitz des Lebens, so wie auch die Quelle eines Flusses oder Baches sein "Kopf" genannt wurde. Das lateinische Wort für Gehirn, "cerebrum", das gleichzeitig "Rückenmark" bedeutet, ist verwandt mit "Ceres", der Göttin der Fruchtbarkeit, die besonders mit dem Korn im "Kopf" der Kornähre in Verbindung gebracht wurde, und deren Name (wie sein männliches Gegenstück "Cerus") "Erzeugerin" bedeutet. Im frühen Latein hatten die Wörter "cerrus" und "cerus" eine ähnliche Bedeutung wie "genius". Der Glaube, dass der Genius im Kopf wohnt, erklärt auch, warum das Haar vom Dichter Apuleius "genialis" genannt wird: es ist aufs engste verbunden mit der zeugenden Lebensseele und Lebenssubstanz, was auch die Erklärung für die Samson-Geschichte in der Bibel ist. .

Genius und Lebenssaft

Ein wichtiger Aspekt des Kopfes als Sitz des Lebensgeistes Genius ist der Zusammenhang mit dem "Lebenssaft". Onians hat durch seine Forschungen über die Wurzeln der zentralen griechischen und römischen Begriffe deutlich gemacht, dass die Vorstellung eines Lebensgeistes mit derjenigen eines Lebenssaftes verbunden ist. Lebendig sein heisst "voller Saft sein". Dieser mit dem Genius und der "Psyche" verbundene Lebenssaft, bei den Römern "sucus" oder "umor", bei den Griechen "Aion" genannt, ist verantwortlich für das "pralle Leben"; er füllt das Fleisch und kann aus dem Körper austreten und verloren gehen, z.B. durch Bluten, Schwitzen oder das Vergießen von Tränen. Auch durch den Alterungsprozess trocknet der Körper aus und der Lebenssaft geht verloren. Das Wort "Skelett" (griechisch "skeleton") bedeutet "das Ausgetrocknete". Wenn dies geschieht, verrottet das Fleisch. Der Lebenssaft gibt dem Körper seinen Tonus, seine Spannkraft und Fülle, sein Fett und seine Kraft und ist mit Stärke, Ausstrahlungskraft und sexueller Energie verbunden. Alles, was den Lebenssaft erneuert und stärkt, wie gute und reichliche Ernährung, jede Art von Genuss, sexuelle Aktivität, ist auch Förderung des Genius - das Gegenteil wird von den Römern als "Raub am Genius" (defrudatio genii) bezeichnet. Dieser Saft ist sozusagen der Stoff des Lebens und der Fortpflanzung, während der Genius deren Geist ist.

Diesen Lebenssaft stellte man sich konzentriert insbesondere im Kopf vor und glaubte, er hänge von der Zerebrospinalflüssigkeit und dem "Knochenmark" ab. Hippokrates sprach vom Knochenmark der Wirbelsäule als dem "Aion". Kopf und Rückenmark enthalten den "Samen", der mit Mark und Gehirnsubstanz gleichgesetzt wurde. Die Bedeutung des Wortes "Aion" erhellt sich aus seiner Verwandtschaft mit "Aiolos", das "etwas, was sich bewegt" bedeutet und mit unserem "Seele" (angelsächsisch "sawol" und gothisch "saiwala") verwandt ist - es geht auf urgermanisch "saiwalo" zurück, das "aus dem See stammend, dem See zugehörig" bedeutet. Bekanntlich galten den Germanen bestimmte Seen als Aufenthaltsort der Seelen vor der Geburt und nach dem Tod, und eine alte Verwandtschaft verbindet die Vorstellungen von "Seele" mit denjenigen von "Wasser", "Feuchtigkeit" und "Saft". Da die Spanne des Lebens mit der Saftfülle des Körpers zur Neige geht, erhielt das Wort "Aion" später die Bedeutung von "Lebensalter".

Genius und Numen

Ähnlich wie das chinesische "Chi" ursprünglich die Bedeutung eines Dunstes besaß, der von einem überfluteten Reisfeld aufsteigt, so stellte man sich den Genius wohl ursprünglich als einen dampfartigen Geist vor, der vom Lebenssaft oder "Samen" in Rückenmark und Kopf ausgeht. Während alle Zustände und Äusserungen des wachen Ichbewußtseins Angelegenheit des "animus" sind, ist es der Genius bzw. der Daimon, der verantwortlich ist für alle spontanen, unkontrollierbaren Bewußtseinszustände und Lebensäußerungen. Für den antiken Menschen waren sie sie etwas Ähnliches wie für uns "das Unbewußte". Sie beeinflußen das Leben eines Menschen und seine Handlungen neben oder sogar gegen sein bewußtes Sein. Immer wenn es um Zustände geht, für die das bewußte Ich keine Verantwortung empfindet und die es nicht kontrollieren kann, sind in der antiken Literatur hauptsächlich Kopf und Gesicht betroffen und wird die Urheberschaft des Genius vermutet. Dazu gehören unter anderem Niesen, Erröten, Wut und Zorn, Ekstase und sexuelle Erregung, Raserei, Verrücktheit, Stolz, Scham- und Ehrgefühle. Es ist der Genius, der im Zeugungsakt explodiert und "bläst" und damit den Samen ausstösst. Wie die Römer sagten, liebt man "mit dem Mark" (amare medullitus). Dabei ist wie in vielen dieser Zustände, in denen das normale rationale Bewußtsein, das in der Brust sitzt, entthront wird und der Genius im Kopf die Kontrolle übernimmt, "das Mark in Flammen", ein inneres Feuer "isst das Mark" und man hat "Feuer in den Knochen". Es tritt ein "Brennen" des Lebenssaftes und des Marks ein, durch das eine verstärkte Aktivität des Genius entfacht wird. Die Römer verwendeten für diese Zustände die Wörter "cerebrosus" und "cerritus" (besessen, rasend, außer sich), die von "cerus, cerrus" abgeleitetet sind (siehe oben).

Beim Erröten brennt der Kopf - wir sprechen von "brennender Scham". Ein roter Kopf entsteht auch, wenn uns Wut und Zorn in den Kopf steigen - und die Augen funkeln und glühen. Etwas Ähnliches geschieht in der sexuellen Liebe und Leidenschaft, die in der Antike oft als Prozess des "Schmelzens" und der "Verflüssigung" und als "flüssig, nass" beschrieben werden. Auch die berühmte Kampfeswut der nordischen Berserker und irischen Helden (deren späte Ausläufer wohl die gefürchteten Schweizer Landsknechte waren) und die inspirierte Ekstase von Sehern, Propheten und Dichtern wird als ein "in Flammen stehen" beschrieben. Menschen mit einem starken Genius, wie Schamanen, Yogis, Helden, große und geniale Menschen, Könige und später christliche Heilige wurden deshalb oft mit einem Flammenkranz oder einer Glorie um den Kopf beschrieben.

Der Genius ist auch eine Kraft, die mit prophetischem Wissen begabt ist, das das bewußte Ich nicht besitzt, eine Quelle der Inspiration jenseits der gewöhnlichen Intelligenz. Der Römer sprach bei einem prophetisch oder intuitiv begabten Menschen davon, dass er Genius habe. Der Genius ist der "göttliche Helfer und Souffleur" des bewußten Ich (Onians). Griechen und Römer glaubten, dass jede Bewegung, jedes Schaudern, Zittern, Pochen und Pulsieren, Niesen, Erröten usw. ohne ersichtlichen Einfluß vom bewußten Ich Zeichen vom Genius waren, eine Botschaft oder Warnung von einem Geschehen, das sich jenseits des Horizontes des bewußten Ichs abspielte. Die Natur des betreffenden Geschehens wurde durch den Körperteil angezeigt, der sich bewegte. Das Zucken eines Augenlides konnte bedeuten, dass man die Liebste bald sehen würde; das Läuten in den Ohren, dass jemand gerade über einen sprach; ein Jucken in der Handfläche, dass man bald Geld erhalten würde.

So wurde ein Niesen entweder als prophetische Äußerung oder dann als Störung des Lebensgeistes im Kopf gedeutet - oder gar als Zeichen dafür, dass der Genius den Kopf verläßt. Wenn jemand unter den Römern nieste, sagte man "salve" (sei gegrüßt) und betete für die Abwendung der Gefahr. Die Griechen sagten beim Niesen "Zeus, rette mich". Ähnliche Gebräuche findet man bei Juden und in Indien. Das Niesen wurde als ein Nicken (numen) betrachtet, eine Bewegung, die nicht erwartet oder vom bewußten Ich kontrolliert, sondern spontaner Ausdruck des Lebensgeistes im Kopf ist. Deshalb galt das Niesen als heilig.

"Numen" ("das Nicken", oder "etwas, das nickt oder genickt wird"), ein zentraler religionswissenschaftlicher Begriff mit der Bedeutung "göttliches Wirken", der uns noch weiter beschäftigen wird, ist nur im Zusammenhang mit der geschilderten Bedeutung des Kopfes als Träger des Genius zu verstehen. Zwischen Genius und Numen gibt es einen engen Zusammenhang; der Dichter Horaz nennt Cäsars Genius "dein Numen". Der Genius manifestiert seinen Willen durch das Nicken. Das Nicken galt als etwas Mächtiges, Unwiderstehliches, als unfehlbares Versprechen, das bindend Handeln erforderte. Es war in Rom ein wichtiges Rechtssymbol - davon leitet sich her, dass man noch heute vom "Abnicken" einer Vorlage im Parlament spricht. Auch bei den Griechen war das Nicken die bindende und heilige Form des Versprechens, eine Willenskundgebung - weil der Genius im Kopf an dem Versprechen beteiligt war. Die Macht im Kopf war der Garant, der die Erfüllung sicherstellte.

Genius und Daimon als Totengeister

Auch der Unsterblichkeitsglaube der Römer gründet sich auf der Geniuslehre. Der Genius ist ja jener Teil des Menschen, der während des Lebens als Gott verehrt wird - ein Status, der mit Unsterblichkeit verbunden ist. Er ist der "Deus parens", dessen die Angehörigen des Verstorbenen in den "Parentalia", dem "Fest der Zeugenden", gedenken. Er lebt in einem gewissen Sinn nach dem Tod des Individuums als körperloses Wesen weiter, das manchmal als "genius" des Verstorbenen, meist jedoch als "umbra" (Schatten), "anima", oder als "Lar", "Larva" oder "Man" (Totengeist) bezeichnet wurde, weil nach dem Tod seine zeugende Kraft nicht mehr im Vordergrund steht. Das Erscheinen des Daimon in Schlangenform erklärten sich die Griechen damit, dass die Lebenssäfte des Verstorbenen aus Mark, Knochen und Gehirn nach dem Tod zusammenfließen, gerinnen und zu einer Schlange werden.

Genius und Daimon gehören jedoch, wie bereits erwähnt, im Grunde nicht dem einzelnen Individuum an, sondern stellen die kollektive Reproduktionskraft und unbewusste Identität der ganzen Familie, ursprünglich sicher des gesamten Geschlechtsverbandes, Clans oder Stammes dar. Das zeigt sich darin, dass immer nur der Genius des "pater familias" (und die "juno" der "mater familias") kultisch verehrt wurde; die Familienoberhäupter repräsentierten den Genius der ganzen Familie.

Man darf nicht vergessen, dass Vorstellungen wie Genius und Daimon ihren Ursprung in der archaischen Frühzeit der Menschheit haben, als ein individuelles Ichbewußtsein erst in Ansätzen begann, sich aus einem vorbewußten Kollektivbewußtsein ("Gruppenseele") herauszuentwickeln. Der Prozess der Ichbildung vollzog sich zunächst nur in "herausgehobenen Einzelnen", die stellvertretend für die Gruppe Träger des Bewußtseins und Vorbilder für die Bewußtseinsentwicklung aller Individuen wurden (Neumann). Jane Harrison beschreibt in "Epilegomena" die Entstehung der Vorstellung von Göttern und "Daimones" bei den Griechen aus dem kollektiven Erleben eines starken emotionalen Feldes, das bei religiösen Festen, Tänzen und Ritualen erzeugt wurde. In diesem Feld erlebte das Kollektiv sich selbst als Gott oder Gruppe von Daimones, und die als emotionales Feld erlebte und in der Ekstase wohl auch visionär geschaute Gottheit wurde, wie die Altertumswissenschaftlerin schreibt, dann vor allem auf den Anführer des Rituals projiziert, den man "daimonon agumenos", den Führer der Daimones, nannte. Er war als "hervorgehobener Einzelner" in der Lage, das unbewusste kollektive Erleben zu fokussieren und ihm Ausdruck zu verleihen.

Doch erst wenn wir uns vor Augen halten, dass dies alles vor dem Hintergrund einer allgemeinen numinosen Wahrnehmung der Realität geschah, können wir uns ein vollständiges Bild machen vom Wesen von Genius und Daimon. Für den archaischen Menschen, der noch kein festes Ich ausgebildet hat, fließen Innenwelt und Aussenwelt noch ineinander, und sein schwaches Ich kann in den flutenden Eindrücken, die ihn ständig zu überwältigen drohen, noch keine festen Objekte fokussieren. Für ihn ist noch alles ein "Innen" mit psychischem, begeistetem und beseeltem Charakter, eine Wirklichkeit der Numinosität, in der er ständig von Dingen, die unvorhersehbar und unkontrollierbar in seiner Aufmerksamkeit, seinem Bewußtsein auftauchen, überrascht zu werden droht. Diese unkontrollierbare, "dämonische" Realität bildet auch noch den gemeinsamen Hintergrund des antiken Weltbildes, wenn es auch im Verhältnis zu diesem "Hintergrund" zwischen Römern und Griechen gewisse Unterschiede gibt. Herbert J.Rose meint, der wesentliche Unterschied zwischen der griechischen und der römischen Art und Weise, die Welt zu betrachten, bestehe darin, dass die griechische Religion ursprünglich animistisch (Seelenglauben), die römische präanimistisch (Glaube an eine allgemeine "Kraft", die man in der Völkerkunde mit dem Südseewort "Mana" bezeichnet) sei. Das erkläre auch den mythologischen Reichtum bei den Griechen und die römische Armut an Mythen. Während nach Rose die griechische Religion vor allem vom Seelenglauben geprägt ist, steht bei den Römern die unpersönliche Manifestation des göttlichen Macht des "Mana" im Vordergrund, das Numen. Die Götter waren ursprünglich "nicht mehr als fokale Punkte von Numen, große Akkumulationen von Mana" und werden erst später zu einer Art von Personen (Rose). Die präanimistische Stufe (dieser Begriff wurde 1900 von dem englischen Religionswissenschaftler Robert R.Marett geprägt) spielte aber in der römischen Religion noch lange eine wichtige Rolle: in Form der Genius- und Numen-Lehre. Wenn man allerdings nicht nur die Hochreligion und die literarischen Zeugnisse, sondern den Volksglauben betrachtet, so ist vermutlich der Unterschied nicht mehr sehr gross. Rose und Franz Altheim weisen darauf hin, dass im römischen Weltbild das einmalige, historische festgelegte Ereignis im Vordergrund steht; sie empfanden die Besonderheit individueller geschichtlicher Augenblicke als zentral. Das ganze Wesen der römischen Götter liegt in ihrem Handeln, ihrem Wirken und Tun, sie offenbaren sich im göttlichen Akt, und der gründet sich in ihrem Hervortreten zu einer bestimmten Stunde. Das Numen meint diese historische Manifestation des Göttlichen, sein spontanes Erscheinen und Wirken. Jeder Gott besitzt sein Numen (numen Jovis, numen Cereris etc.). Genius (aber auch Daimon) sind solche Begriffe für den Handlungsaspekt des Göttlichen, in diesem Fall bezogen auf den Augenblick der Geburt bzw. der Zeugung. Die ältesten römischen Götter sind von gleicher Art. "Janus" zum Beispiel meint ursprünglich "das Gehen" und wurde dann zum Gott des Beginns einer jeden Handlung. Sein Gegenstück ist "Consus", ("das Bergen"), ist der Gott des Abschlusses jedes Tuns. Es gab sogar einen "Vagitanus" (Gott es ersten Kinderschreis), "Domiducus" (Gott des Hochzeitstags) und einen "Nodotus" (Gott der Knotenbildung im Gras- und Getreidehalm). So wie Janus und Consus regelmäßig wiederkehrende besondere Momente bezeichnen, so steht auch Genius für etwas Wiederkehrendes, nämlich die jeweils einmalige Verkörperung des Sippengeistes und Sippenlebens in einem ihrer Mitglieder, oder vielleicht vielmehr in einer Generation. Die Geburt eines Menschen wird wie ein Omen, oder "Prodigium" (Zeichen des Göttlichen) betrachtet, als numinoser Moment der göttlichen Manifestation. Wie es bei Cicero heisst, offenbaren sich Kraft und Numen einer Gottheit vor allem in Prodigien, d.h. "Geschehnissen, die durch ihren ungewöhnlichem Charakter einen Hinweis darstellten, dass das Einvernehmen mit den Göttern gestört war", wobei der Zeitpunkt ihres Auftretens das wichtigste Charakteristikum war. Prodigien spielten im römischen Privat- und öffentlichen Leben eine zentrale Rolle, viele politische Akte wurden nach den durch staatliche besoldete Berufsdeuter interpretierten Prodigien ausgerichtet. Wie Altheim betont, waren die Römer sehr nach dem Diesseits orientiert und scheinen nur die Manifestation des Göttlichen im Hier und Jetzt beachtet zu haben, während der numinose Hintergrund weitgehend unbewußt blieb. Die Griechen hingegen hätten sich viel mit der überzeitlichen Existenz von Göttern und Daimones beschäftigt, während die Offenbarung des Göttlichen in der Zeit für sie nur nebensächlichen Charakter besessen habe. Möglicherweise ist dieser Unterschied darauf zurückzuführen, dass das Ichbewusstsein des römischen Menschen bereits relativ gefestigt war, während der Grieche sich in seinem frisch erworbenen Ich durch jede Manifestation des Unbewussten (des Daimons) noch existentiell bedroht fühlen musste.

Der Daimon als Chthonier

Auf einen Aspekt der griechischen Religion und des Daimon müssen wir noch zu sprechen kommen, der den Zusammenhang des bisher Behandelten mit Landschaft und Orten zu beleuchten beginnt. Ähnlich wie der Römer unterschied der Grieche in der Welt des Numinosen zwei Bereiche - sie waren jedoch für ihn viel schärfer getrennt als für den Römer - : die weit entfernte Welt der olympischen Götter, die ihm wohlwollend und ungefährlich erschien, und die Welt des Chthonischen, Unterirdischen, die für ihn nah und oft bedrohlich, aber auch viel bedeutender für seinen Alltag war, weil sie direkt in sein Leben eingriff und mit diesem eng verknüpft war. Wohl wegen seiner grösseren Bedrohlichkeit wird in Griechenland auch die chthonische Natur des "Daimonischen" und seine enge Verbindung mit dem Daimon des menschlichen Unbewussten viel deutlicher als bei den Römern.

Die Griechen kannten neben den bekannten olympischen Göttern (Zeus, Hera, Ares, ) auch eine Reihe chthonischer, d.h. im Inneren der Erde hausende Götter. Wie bei allen älteren Göttern, waren ihre Konturen sehr unbestimmt. In erster Linie ist hier Gaia (oder Ge), die Erde zu nennen, wohl die chthonische Urgestalt, von der die meisten anderen Chthoniker, wie z.B. Demeter, Kore (deren Tochter) und Chthonia, abgeleitet sind. Es gab auch einen Zeus Chthonios, der mit dem Unterweltgott Hades identisch ist und der beschwichtigend auch Pluton oder Zeus Pluteus genannt wurde. Die an Landschaft, Boden und Lokalität gebundenen Kulte dieser Chthoniker sind mit einer sesshaften, ackerbauenden Kultur verbunden und gehören zum ältesten Bestand des griechischen Glaubens. Sie waren dem Volk in der Regel näher als die Verehrung der olympischen Götter, denn sie gewährten Fruchtbarkeit und Segen für den Anbau der Feldfrüchte und für das Fortleben der Familie, nahmen die Seelen der Toten in ihre Tiefe auf, und sandten Wahrsagungen von zukünftigen Ereignissen aus der Tiefe des Geisterreiches herauf.

In der Haltung der Griechen gegenüber den Chthonischen finden wir die selbe Ambivalenz wie gegenüber dem Daimon: Man benannte sie gerne mit euphemistischen Namen, die ihre grauenerregenden, ängstigenden Aspekte zugunsten ihrer segensreichen Eigenschaften verschleierten. So wurde z.B. Hades meist Pluton genannt, um ihn bei seiner Wohlstand und Erntesegen spendenden Eigenschaft zu beschwören. Man hatte den Chthonischen gegenüber ein ähnliches Gefühl, wie in Bezug auf den Daimon: Scheu und Angst, denn aus der Tiefe der Erde konnte sich jederzeit jene Kraft manifestieren, die zwar Leben brachte und das Fortleben garantierte, es aber auch jederzeit wieder zu sich nehmen konnte. Angst machte vor allem auch, dass die unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Eingriffe dieser Kraft in das Leben jederzeit erfolgen konnten und die frisch errungene, noch gefährdete Kontrolle des bewussten Ich über Persönlichkeit und Umwelt immer wieder in Frage stellte.

Daimon und Heros

Diese Ähnlichkeit ist kein Zufall, denn auch der Daimon (bzw. Genius) ist ein Chthonier, und es gibt viele Hinweise darauf, dass der Daimon im Menschen und die daimonische Welt unter der Erde auf eigenartige Weise identisch sein müssen. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn wir die griechische Heroenlehre betrachten. Die Heroen, zu denen es kein eigentliches römisches Gegenstück gibt, sind Verstorbene, die sich bereits während ihrer Lebenszeit durch ihren Daimon als "hervorgehobene Einzelne" hervorgetan haben und die nach ihrem Tod als "mächtige Tote" (Nilsson) zu "Heroen" werden, die eine Art Halbgötter darstellen. Wie Nilsson schreibt, beruhte Heroisierung nicht auf Heiligkeit oder Verdiensten während des Lebens, sondern auf einer besonderen, dem Toten anhaftende Kraft, die auch bösartig sein konnte. Auch hier ist es wieder das Außerordentliche, Unberechenbare, Unheimliche, mit anderen Worten der Daimon, der den Heros ausmacht. Die Macht des Heros ist an sein Grab gebunden und wirkt fort, aber nur lokal im Umkreis des Grabes und für "seine" Familie, Gruppe, Stadt usw. Überall in Griechenland gab es solche Heroengräber, die eine zentrale Rolle im altgriechischen Volksglauben spielten. Der Glaube an die im Leibe des Toten fortwirkende Macht übertrug diese auch auf den Grabstein, von dem man annahm, dass er die Macht des Daimon enthalten konnte. Das Hauptereignis ihres Kultes war das kultische Mahl zu Ehren des Heros. Vom kultisch besänftigten Heros wurden Fruchtbarkeit der Felder, Heilungen, Geschäfts- und Kriegsglück und mantische Weisungen erwartet. Wenn ein Grieche an einem Heroengrab vorbeikam, verstummte er, um den "Mächtigen" (Kreitton) nicht zu stören.

Eine Art von Heroen sind die "eponymen Heroen", nach denen ganze Geschlechter benannt sind, wie z.B. die mythischen Könige von Athen - Kekrops, nach dem das Geschlecht der Kekropiden, oder Erichthonios, von dem die Erichthoniden ihren Namen haben (Harrison). Sie werden als Schlangen-Daimones, als Wesen mit menschlichem Oberkörper und dem Unterleib einer Schlange, betrachtet und dargestellt. In neu angelegten Städten wird meist der Gründer zum "Heros Ktistes" (Gründer-Heros), der oft auf dem Marktplatz bestattet ist. Die zehn Phylen (Stämme), die nach der Reform des Kleisthenes im Jahre 510 in Athen die alten Geschlechterverbände ersetzten, waren nach je einem Heros benannt; auf dem Athener Marktplatz wurden 10 Heroengräber angelegt. Auch blitzgetroffene Menschen wurden heroisiert.

Die Heroen, mit anderen Worten, verkörperten den Genius der betreffenden Geschlechter oder Gruppen; wieder geht es nicht um persönliche Unsterblichkeit, sondern um die Kraft oder den Geist, der die ewige Erneuerung des Lebens durch Wiedergeburt und das ewige Fortleben der Gruppe verkörperte.

Daimones und Heroen wurden von Pythagoräern und dann auch von Plato als Zwischenstufen zwischen den Göttern und dem Menschen betrachtet (Burkert, Lore). Nach Hesiod (ca. 700 v.Chr.) wurden die Geschlechter der ersten Menschenzeitalter zu Daimones (Rohde). In seiner "Erzählung von den fünf Menschengeschlechtern" im Buch "Werke und Tage" kann man lesen, dass die Götter am Anfang das Goldene Geschlecht geschaffen hätten, das ohne Alter, Krankheit und Sorge gelebt habe; die Menschen dieses Geschlechts wurden nach ihrem Tode zu mächtigen Daimones, die in Wolken gehüllt unsichtbar über die Menschen wachten. Das darauf folgende silberne Geschlecht war übermütig und hatte keinen Respekt vor den Göttern: Es wurde deshalb vertilgt und wurde zu unterirdischen Daimones, ebenfalls mächtig und verehrt von den Menschen, jedoch weniger als diejenigen des goldenen Zeitalters. Die Angehörigen des ehernen Geschlechtes waren gewalttätig und harten Sinnes; sie vernichteten sich gegenseitig und kamen in den Hades. Das nachfolgende Geschlecht der Heroen, das um Theben und Troia kämpfte und aus den Erzählungen Homers bekannt ist, war gerechter und besser. Sie schieden aus dem Leben, ohne zu sterben, d.h. wurden mit Leib und Seele entrückt und wohnen seitdem auf den Inseln der Seligen. Das Geschlecht des eisernen Zeitalters ist das der sterblichen Zeitgenossen Hesiods. Es wird von Mühe und Sorgen, Faustrecht, Feindschaft und Konkurrenz aller gegen alle beherrscht. Goldenes und silbernes Geschlecht werden also zu Daimones, die zusammen mit den Heroen, zu denen die Menschen des vierten Zeitalters geworden sind, die unsichtbare Welt des antiken Griechenland bevölkern und die Menschen bewachen und beeinflussen. Das Interessante an Hesiods Darstellung ist, dass nur die einst Verstorbenen zu Geistern werden, die in der heutigen Welt mächtig wirken, nicht aber die zeitgenössischen Toten.

Der Genius und die Kraftwesen der Traumzeit

Diese Eigenschaften der Daimones und Heroen lassen es als berechtigt erscheinen, einen Bezug zwischen ihnen (bzw. den Genien der Römer) und den "Ahnen der Traumzeit" der australischen Aborigines herzustellen. Die australischen Ureinwohner führen ihre Existenz auf mythische, halb göttliche, halb menschliche Wesen einer überzeitlichen Urzeit zurück. Diese Geister-Ahnen der jeweiligen Clans haben die Landschaft mit ihrem eigenen Leib geschaffen, indem sie in der "Traumzeit" zu Felsen, Quellen, Bäumen, Bergen und anderen Teilen der Landschaft wurden. Die Identität eines Clansmitgliedes der Aborigines ist eine kollektive und besteht in der Teilhabe an einem dieser Kraftwesen, das gleichzeitig als Ortsgeist in der Erde am mythischen Ursprungsort des Clans und als als Seelenteil in jedem einzelnen Clanmitglied lebt. Es kann auch als "Totemtier" in der Gestalt eines Känguruhs oder einer Eidechse erscheinen und stellvertretend in "Kraftobjekten", den "Dschuringas", bemalten Steinen oder Holzstücken, gegenwärtig sein.

Der Genius loci

Personalgenius und Ortsgenius (Genius loci) sind somit letztlich gar nicht zwei verschiedene Dinge, als die sie in der Fachliteratur erscheinen, sondern bilden ein einheitliches Phänomen, das in zwei unterschiedlichen Aspekten zutage tritt. Der Genius ist eine Art Gruppengeist oder eine Gruppenseele, die alle Individuen einer Familie oder Sippe einerseits miteinander und mit den verstorbenen Mitgliedern, den Ahnen, auf der anderen Seite mit dem Ursprungs- und "Wohnort" des Gruppengeistes verbindet. Der Personalgenius, der das Chthonische, Unterirdische im Menschen darstellt, ist identisch oder verbunden mit der Unterwelt der Erde, mit jenem verborgenen Pool des Mana, der zeugenden Lebenskraft der Vorfahren, aus dem diese in den Kreislauf der Wiedergeburten eingespeist wird und in den sie immer wieder zurückkehrt. In meinem Buch "Unsere Seele kann fliegen" habe ich diese Kraft in moderne Begriffe übersetzt die "stammeseigenen morphogenetischen Felder" genannt.

Von dort möchte ich weiter zitieren: "In Ngama in Zentralaustralien liegt eine Felsgruppe, in der man verschiedene hundeähnliche Formen sehen kann: sie war nach der einheimischen Mythologie Wohnort der ersten Familie wilder Hunde und wird als magisches Hervorbringungszentrum der Spezies betrachtet, wo die Eingeborenen Zeremonien zur Steigerung der Hundepopulation verrichten. Dieselbe Funktion haben unsere Kultorte für menschliche Stämme oder Stammesverbände: sie sind der zentrale Quell der Lebenskraft aller, die vom Ahn abstammen, die Wurzel der Herkunft. Wenn man feststellt, dass die Rituale, die mit solchen Orten verbunden sind, Fruchtbarkeitsrituale sind, darf man nicht vergessen, dass die Kraft, die hier entspringt und die in den Ritualen jährlich erneuert werden muß, auf keinen Fall plump sexuell verstanden werden darf. Dieselbe sexuelle Energie, die in diesen "Points d'amour" (Robert Charroux) wohnt, ist auch Geist und Seele, das Wesen des Ahns und des Stamms sowie der Landschaft der Umgebung. Die Orte sind auch Quell der Inspiration, Zugang zur kollektiven Erinnerung, zur Information, die im Stammesarchetyp wohnt, sind auch Orakel".

"Steine und Stöcke" - die Charakterisierung des englischen Archäologen Sir Arthur Evans für die wesentlichsten Elemente der minoischen Kultur im frühen Griechenland - verkörpern in der archaischen Landschaft solche Mana-Sitze, und nach unseren Erläuterungen über die Bedeutung des Kopfes als Sitz des Genius sehen wir, dass es kein Zufall ist, dass Felsen, Baumstümpfe, Pfähle und Menhire als Sitze des "Kopfgeistes" später oft mit Köpfen versehen oder als Penis gestaltet wurden, wurde doch dessen "Kopf" gleichermaßen zu dem Haupt der menschlichen Gestalt in Beziehung gesetzt. Das prominenteste Beispiel im alten Griechenland ist der "Kopfgott", Seelenführer und Beschützer der Wege Hermes, dessen steinerne Darstellungen als geflügelter Phallus oder Kopf in der griechischen Landschaft der Antike überall anzutreffen waren. Von der geomantischen Bedeutung des Zusammenhanges zwischen Kopf und Genius zeugen auch die vielen Kopf-Orte, vom römischen Kapitol (Capitolium=Ort des Kopfes) über das Jerusalemer Golgatha bis zum White Hill in London, wo der Kopf des keltischen Unterweltgottes Bran begraben sein und das Land beschützen soll.

Vor diesem Hintergrund sind auch die spärlichen Zeugnisse zu sehen, die wir von römischen Autoren über den Genius loci haben. Wie Menschen und Gruppen von Menschen - so gab es z.B. den "genius populi Romani" (des römischen Volkes) - , so schrieb der Römer auch jedem Ort der natürlichen Landschaft einen Genius zu. Es gibt den "genius montis" (Genius des Berges), "genius valli, fontis, fluminis" (Genius des Tales, der Quelle, des Flusses), sogar nur einen "genius huius loci montis" (dieser Stelle des Berges) (siehe Abbildung aus Herkulaneum). Aber auch alle vom Menschen geschaffenen örtlichen Strukturen besaßen für den Römer ihren Genius loci als Schutzgeist. Dazu schreibt der Schriftsteller Prudentius: "Auch den Toren pflegt ihr einen Genius zuzuschreiben, den Häusern, den Thermen, den Ställen und für jeden Ort und alle Glieder der Stadt viele tausend Genien anzunehmen, so dass kein Winkel des ihm eigenen Schattengeistes entbehre" (Birt). So findet man "genius theatri, thermarum, horrei (Kornspeicher), stabuli, curiae" etc. Die Zueignung eines Ortes oder Gebäudes an einen Genius verlieh Schutz gegen Unbill und Verunreinigung. Auch Provinzen, Dörfer, Städte und Gemeinden haben ihren Genius loci: "genius vici, oppidi, municipi, Genius Cartagini (Karthago), Lugduni (Lyon), genius urbis Roma (Stadt Rom). Manchmal wurden diese Genien auf den Denkmälern oder in der Literatur mit bestimmten Göttern identifiziert (Apollo, Mars, Herkules etc.), die "deus patrius" (väterlicher Gott) und "genius coloniae" (Genius der Kolonie, Siedlung) sind, oft aber heissen sie ohne nähere Kennzeichnung einfach"genius huius loci" (Genius dieser Stätte). Über Orte, an denen ein Genius wohnte, konnte der Römer sagen "numen inest" (darin wohnt ein Geist, das göttliche Numen), wie der Dichter Ovid in den "Fasti" (III,296-7) über den Aventinhügel. Die griechische Entsprechung dazu wäre "daimonios ho topos" (Rose).

Tempel wurden vielen Lokalgenien erbaut, aber nur denen von allgemeiner Bedeutung. Bei diesen fehlte oft sogar ein schriftlicher Hinweis; die Gegenwart eines Genius wurde dann nur durch das Bild einer Schlange angedeutet, das übliche Symbol des Genius loci. In den Häusern hielten die Römer meist lebende Schlangen, die als identisch mit den Ortsgenien galten und die Personalgenien behüteten; der Tod einer solchen Hausschlange galt als böses Omen.

Vom Weiterleben des Genius loci-Konzeptes - und von der Kenntnis der antiken Diskussionen über das Wesen von Genius und Daimon - in späteren Jahrhunderten, vor allem in der Tradition des Humanismus, zeugt der St.Galler Humanist und Reformator Vadian, der 1518 nach jahrhundertelangem amtlichem Verbot als erster den Berg Pilatus in der Nähe von Luzern bestieg, um den berühmten "verwünschten See" zu besichtigen und einen persönlichen Augenschein am Ort vieler alter Sagen zu nehmen. In seinem Bericht darüber schrieb er, dass gewisse Orte sich durch ein "numen aliquod naturae" (ein gewisses "numen" der Natur) auszeichneten - er verwendete auch die Begriffe "numen loci" und "genius loci" - das er natürlichen, nicht übernatürlichen Ursachen zuschrieb, während sein Kollege Gesner an das Wirken eines Geistes oder Dämonen glaubte - mit der Begründung, die Natur tue nichts Plötzliches und Unangekündigtes, und kleinste Ursachen könnten keine großen Wirkungen haben. Dieses "numen naturae" stellte sich Vadian als eine Art Kraftstoff-Konzentration vor (Schmid).

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3. GEOMANTIE – ORTE DER KRAFT
Eine Konzeption von den unsichtbaren Strukturen von Raum und Landschaft jenseits von Physik und Radiästhesie. Von Marco Bischof, 1990
Veröffentlicht in der Zeitschrift „Wetter-Boden-Mensch“, 2/1990

Dank der Radiästhesie ist die Vorstellung von unsichtbaren energetischen Raumstrukturen und Standorteinflüssen bis in unsere Zeit gerettet worden. Aus verschiedenen Gründen erscheint dem Autor aber die radiästhetische Konzeption der Gitternetze unbefriedigend und zu sehr einem physikalischen Denken verhaftet. Er versucht in seinen Forschungen zu einer umfassenderen, ganzheitlichen Auffassung über die unsichtbaren Strukturen von Raum und Landschaft zu gelangen, die sowohl die Forschungen über die traditionelle Geomantie der alten Kulturen und "Naturvölker" wie auch die Erkenntnisse der neuesten Physik einbezieht.

Die Mythen verschiedenster Völker berichten von einem heute "versunkenen", nicht immer alltäglich zugänglichen "Land" - dem, was wir Paradies nennen -, dessen Landschaft von einem eigenartigen, von innen kommenden Leuchten erfüllt und von einer unirdischen Lebendigkeit ist. Diese "himmlische Erde" ist eine andere Dimension der Landschaft, in der wir leben, ist gleichsam "hinter" dieser oder in dieser verborgen. Früheren Kulturen waren Erde und Landschaft noch "heilig", weil transparent für diese "andere Welt". Ohne Ausnahme berichten die Mythen von einer Art Sündenfall, einer Austreibung der Menscheit aus dem Paradies durch eigene Schuld. Der Kulturprozeß mit seiner zunehmenden Unterwerfung von Natur und Landschaft unter menschlichen Gestaltungswillen hat eine immer größere Entfremdung des Menschen von der Natur in der Umwelt, aber auch in ihm selbst mit sich gebracht; das ist die Bedeutung von "Sünde" (= Sonderung, Trennung).

Doch der Mensch hat eine Möglichkeit, mit dem nicht eigentlich verlorenen, nur "versunkenen" Paradies Kontakt aufzunehmen, denn es handelt sich im Grunde eher um einen Bewußtseinszustand als ein geografisch lokalisiertes "Land". Ob die Menschheit nun tatsächlich einmal in diesem Zustand gelebt hat oder nicht, die zumindest zeitweilige Rückverbindung mit diesem Zustand ist für den Einzelmenschen und für die ganzen Gesellschaften und Kulturen lebenswichtig. Frühere Kulturen waren sogar auf der Grundlage dieser Rückverbindung aufgebaut.

Schamanen und andere Menschen mit der Befähigung zum "Seelenreisen" unternahmen immer wieder Ausflüge in diese Welt, in der "alles zum ersten Mal geschehen ist". Die buddhistische Meditationspraxis hat ebenso zum Ziel, den Meditierenden in jenen Zustand zurückzuführen, in dem er die Welt so erlebt, wie sie in der Frische des Anfangs war, bevor die Enkulturationsprozesse einsetzten, in die Welt dessen, was man heute die "primäre Wahrnehmungen" nennt. Heiler versetzen sich ebenfalls in diesen Zustand der Gedankenfreiheit und größtmöglichen Unbelastetheit und Entspannung, weil hier eine zutiefst befreiende und heilende Energie frei wird, die sich auf den Patienten übertragen läßt.

Auch die moderne Physik hat Konzeptionen entwickelt, die für die Existenz einer solchen Dimension der Wirklichkeit sprechen. Ich möchte nur die "holografische Theorie der Wirklichkeit" des Einstein-Schülers David BOHM erwähnen. Sie spricht davon, daß es neben der "expliziten Dimension" der von unseren Sinnen wahrgenommenen und physikalisch meßbaren Objektwelt eine so genannte "implizite Dimension" der Wirklichkeit gibt, die der Wirklichkeit entspricht, die wir in der "primären Wahrnehmung" wahrnehmen. Bevor unser Gehirn (nachgewiesenermaßen) aus dem was unsere Sinne aufnehmen, die Welt der Gegenstände konstruiert, nehmen wir nämlich bloß eine Welt von ineinander verwobenen Schwingungen wahr, in der wie in einem holografischen Bild keinerlei Gegenstände erkennbar sind.

Auf ähnliche Weise erlebt jemand, der unter dem Einfluß bestimmter "psychedelischer" Drogen steht, seine Umgebung: die Gegenstände fangen an zu leben und sich in Schwingungsgebilde aufzulösen, was sie ja nach den Erkenntnissen der modemen Physik auch sind, und leuchten wie von innen heraus

Etwa nehmen auch Seelenreisende die Landschaft auf ihren außerkörper-lichen Ausflügen wahr. Die "leuchtenden Pfade" und "Feenstraßen", von denen in der Geomantie und in den Sagen verschiedenster Völker die Rede ist, entstammen den Berichten zurückgekehrter Seelenreisender ebenso wie die verschiedenen eigenartigen, oft auch als leuchtend beschriebenen Wesen, die die Landschaft in vielen Volkssagen an bestimmten Stellen bevölkern.

Dieses Paradies könnte man auch als eine Art "Modellvorstellung" bezeichnen, wie sie die moderne Naturwissenschaft kennt. In diesem Land findet nämlich, worin wir es in der Ausdrucksweise der JUNG'schen Psychologie sagen wollen, die "Begegnung mit dem Selbst" statt. Die Landschaft des Paradieses stellt das Urbild einer Landschaft dar, wie es irgendwo im Unbewußtsein jedes Menschen gespeichert ist. Der Seelenreisende hat hier auch Begegnungen mit Guru-artigen Wesen, die ihm alle Arten von Einsichten, von belanglosen Informationen bis zu erschütternden Einweihungserlebnissen vermitteln. Diese Wesen erlebt er oft als den Inbegriff eines spirituell hochentwickelten Menschen, als "idealen Menschen".

Alle diese Erfahrungen im "anderen Land" der Seelenreise sind immer wieder in der Menschheitsgeschichte zu den Inspirationen und Vorbildern für die Gestaltung von Umwelt, Gesellschaft, privater Lebensführung und allen Arten von Erfindungen geworden.

Alles irdische Schaffen des Menschen wurde in den traditionellen Gesellschaften am Maßstab dieser "himmlischen Erde" gemessen und sollte eine Spiegelung davon sein. Überlieferte Traditionen und Gesetze mußten immer wieder erneuert und vor der Erstarrung bewahrt werden durch die direkte Einholung einer Vision aus diesem lebendigen Speicher archetypischer Vorbilder, sonst drohten sie zu "toten Buchstaben" zu werden (besonders nachdem man mit ihrer schriftlichen Aufzeichnung begonnen hatte).

Man könnte also durchaus die verschiedenen Kulturen nach ihrem Verhältnis zu dieser paradiesischen Dimension beurteilen. Alle Gesellschaften leben natürlich in einem Spannungsfeld zwischen "Paradies" und "gefallener Welt" und müssen mit der Diskrepanz leben. Die Geomantie operiert genau in diesem Spannungsfeld. Ihre Aufgabe ist es einerseits, den Zugang zu der lebenswichtigen, sinnvermittelnden und energiespendenden Paradies-Dimension zu sichern, weil ohne diese ständige oder wenigstens periodische Rückverbindung Mensch und Gesellschaft von ihren eigenen seelischen und geistigen Kraft- und Inspirationsquellen abgeschnitten sind.

Auf der anderen Seite hat sich der Mensch durch dieselben Tiefendimensionen der Wirksamkeit schon immer bedroht gefühlt: "Chaos" und Wildheit drohen die mühsam errungene Ordnung der menschlichen Kultur immer wieder zu verschlingen und zu zerstören. Die Geomantie hat daher auch die Aufgabe, die menschliche Gesellschaft vor derselben "Energie", auf die sie so sehr angewiesen ist, zu schützen.

Mit Seßhaftigkeit und hochkultureller Entwicklung ist die einst enge Verbindung zum "Paradies" immer weiter in die Ferne gerückt. Die Fähigkeit zur Vision ist immer schwächer geworden. Besonders in der Neuzeit, seitdem sich das "moderne" wissenschaftliche Denken entwickelt hat, ist sie regelrecht entwertet worden; der amerikanische Kulturkritiker ROSZAK spricht von einem "Krieg gegen die Imagination". Heute befinden wir uns wahrscheinlich im Endstadium dieser Entwicklung, indem wir die Existenz der Paradies-Dimension von Welt und Landschaft gänzlich leugnen. Wir haben alles beinahe vollkommen verdinglicht und entseelt und finden uns nun in einer verschmutzten, erstarrten, leblosen Welt wieder, in der wir nicht zuhause sein können - natürlich ist sie nur ein Spiegelbild des Zustandes, in dem wir uns selbst befinden.

Wir brauchen aber zur Heilung dieses Zustandes mehr als nur die radiästhetische und physikalische Anerkennung von Erdstrahlen. Die Gitternetze und alles andere sind auch wieder nur objektive, verdinglichte Vorstellungen von etwas, was man sich als vollkommen unabhängig vom Menschen existierend vorstellt. Wir müssen jetzt das, was in der Physik in Bezug auf die "Einbeziehung des Beobachters" diskutiert wird, auch in dieses Gebiet hineinbringen.

Wir brauchen eine "Wiederverzauberung" der Landschaft, und dabei geht es um weit mehr als bloße Fantasie - nämlich um die wahre Imagination. Diese ist nach Henry CORBIN das Wahrnehmungsorgan für die "Welt des Imaginalen", die zusammen mit der eigentlichen "Paradieswelt" des Archetypischen die unsichtbare Dimension von Wirklichkeit und Landschaft bildet. CORBIN versichert uns, auf die Autorität der persischen Illuminaten gestützt, daß es sich bei diesen beiden neben der Objektwelt existierenden Dimensionen der Wirklichkeit um etwas handelt, das ebenso real wie diese ist, aber seine eigenen Gesetze besitzt. Im Gegensatz zur Objektwelt aber, die dies fast nicht tut, beziehen diese Welten "den Beobachter", d. h. die seelische und geistige Wirklichkeit des Menschen mit ein.

Diese "Drei Welten" kommen in vielen alten Kosmologien vor, so bei Indern, Kelten und Hebräern. Sie stellen nicht nur eine Art von Körper, Seele und Geist von Wirklichkeit, Welt und Erde dar, sondern sind gleichzeitig drei Hauptphasen des Schöpfungsvorganges. Als erstes wurde, nach keltischer Lehre, das eigentliche Paradies geschaffen, die Welt der Archetypen oder Urbilder, die auch eine Art Weltmitte darstellt, aus der heraus, ganz wie aus der BOHM'schen "impliziten Ordnung", die Formen der manifestierten Welt herausquellen und in die sie am Ende ihrer Lebenszeit auch wieder zurückkehren ins Formlose.

Hier herrscht, wie in der "Traumzeit" der australischen Ureinwohner, noch beinahe keinerlei Zeitströmung, ein geschichtsloser Zustand. Hier finden wir die Urbilder aller möglichen Dinge in noch unmanifestiertem Zustand, und doch stellen sie bereits eine Vorform der Materie dar, sozusagen die "Imagination Gottes", in der alles "zum ersten Mal stattfindet".

Die mittlere dieser drei Welten (die "Welt des Imaginalen") nennen die Kelten "Wasserwelt", weil alles in dieser Dimension sich im Fluß befindet, dauemd andere Formen annimmt und im Zustand der Vieldeutigkeit bleibt. Hier finden sozusagen die "Proben" statt, in denen die Urbilder die verschiedenen möglichen Varianten und Mutationen durchprobieren und noch offen für die feinsten Einflüsse und Störungen sind. Es ist dies die Dimension, in der die wahre Natur der Manifestation, der Traumcharakter der Wirklichkeit, am klarsten wird.

Die letzten der drei Stufen der Manifestation stellt dann die Welt der Objekte dar, wie wir sie im Alltag erleben: eine Welt, wie es in der keltischen Überlieferung heißt, die uns erscheint, wie wenn sie tot wäre, in der alles in seiner scheinbar endgültigen Form erstarrt ist.

Die mittlere Wasserwelt ist es, der der Geomant vor allem begegnet, wenn er in seiner Vertiefung in die "andere Wirklichkeit der Landschaft" jene Schwelle überwunden hat, die nach meiner Überzeugung durch das Gitterphänomen angezeigt wird. Diese mittlere Welt ist die eigentliche Domäne jener Kraft, die sich zwar in allen drei Welten manifestiert, deren Wesen aber in dieser besonders klar hervortritt: des Äthers, der gestaltbildenden, evolutionären Kundalini-Kraft, die die Anthroposophen treffend die Bildekraft nennen, die man aus alten Traditionen wie auch (allerdings hier sehr eng gefasst) aus der Physik des 19. Jahrhunderts kennt. Sie ist durchaus eine physikalisch wirksame Kraft, aber im Gegensatz zur Auffassung des vorigen Jahrhunderts sehe ich sie gleichzeitig als eine auf psychischer Ebene tätige Kraft an, denn sie ist, nach Aussage der mittelalterlichen Alchemie, die "Imagination Gottes", die Kraft, die sowohl in unserem eigenen Unbewußten wie auch in der physikalischen Welt schöpferisch gestaltbildend tätig ist.

Dieser "Äther" ist es meiner Auffassung nach, der in erster Linie die unsichtbaren Strukturen von Raum und Landschaft bildet. Die radiästhetisch feststellbaren und physikalisch meßbaren Strukturen einschließlich Gittemetze sind wohl nur Sekundärerscheinungen der Ätherfeld-Strukturen. Es handelt sich also um Strukturen, die nur in der Interaktion mit dem menschlichen Bewußtsein, insbesondere dessen unbewußtem Anteil, zu begreifen sind. Es ist vollkommen falsch, so glaube ich, die Erdenergien als etwas zu behandeln, das nun einfach einmal da ist, unabhängig von uns - womöglich noch rein negativ gedacht, so daß sich der Mensch von schrecklichen, krankmachenden Reizstreifen umzingelt fühlt. In welchem Maße das der Fall ist, vermag ich nicht zu entscheiden, aber ich bin überzeugt, daß wir durch alles, was wir tun, in unseren Wohnräumen und im Freien ständig unsichtbare energetische Spuren hinterlassen und Strukturen schaffen und beeinflußen. Es sind ja Versuche gemacht worden, die zeigten, daß rein vorgestellte Reizzonen von Rutengängem festgestellt werden können. Insbesondere durch unser Fühlen und Denken gestalten wir die ätherische Dimension unserer Umgebung wesentlich mit. Das bedeutet vor allem, daß auch bestehende Strukturen vielleicht weitgehend geistig beeinflußt werden können und auch sollten, statt daß man-mit den vielen unsinnigen und oft mehr Schaden als Nutzen anrichtenden Entstörungsgeräten herumpfuscht.

Ein Vergleich der verschiedenen radiästhetisch gefundenen Strukturen (in anderen Kulturkreisen finden Rutengänger und Pendler ja seltsamerweise keine Gittemetze... I zeigt, daß wahrscheinlich weniger die Linien oder Streifen als vielmehr die Kreuzungspunkte von Belang sind. Verschiedene Uberlieferungen und Erfahrungsberichte erzählen von "pulsierenden Knoten" des Ätherfeldes. Es wäre zu empfehlen, bei der Einstimmung auf sie mehr darauf zu achten, welche oft weit herreichenden Einflüsse sich in einem solchen Punkt manifestieren. Das Ätherfeld besitzt holografische Eigenschaften, d. h. daß in jedem dieser Knoten, wie in den Akupunkturpunkten, auch alle anderen und damit das ganze Feld der Erde präsent sind und deren Informationen abgelesen werden können. (Früher hat man die Knoten deshalb auch als Kommunikationssystem benützt.)

Jeder dieser Impulse stellt allerdings eine einzigartige Individualität von Einflüssen oder Aspekten des Gesamtfeldes dar, in dem bestimmte Aspekte hervorgehoben sind, und besitzt deshalb Persönlichkeit. Dieser Umstand (sowie natürlich die Tatsache, daß das Feld selbst ja psychisch-geistiger Natur ist) macht, daß bestimmte dieser Pulse (so etwas wie kleine "heilige Orte" ) sich dem Menschen immer wieder als lebendiges Gegenüber zeigen, mit dem ein Dialog geführt werden kann (und auch sollte). So sind die Feen, Zwerge, Kobolde, Götter, Dämonen und Tiererscheinungen von Mythos und Volkssage nichts anderes als die Form, in der sich diese Pulse dem Menschen offenbaren. Es sind die "Genii loci" (Ortsgeister) oder "Herren des Ortes", die allerdings öfter weiblich denn in männlicher Form erscheinen.

Größere Pulse bilden, was man heute als "Orte der Kraft" kennt. Oft ist es auch eine Gruppe von verschiedenen Pulsen auf engem Raum, die einen Ort zum heiligen macht. Was ebenfalls eine große Rolle spielt bei den Faktoren, die einen solchen Ort aus vielen anderen herausheben, sind bestimmte Landschaftsformen, die im menschlichen Unbewußten eine Resonanz zu archetypischen Landschaftsgestaltungen der "himmlischen Erde" hervorzurufen geeignet sind (und die die Geomantie dann oft noch durch verschiedene Eingriffe diesem Urbild noch näher zu bringen versucht)

Heilige Orte sind auch Keim-Orte, Quell-Orte der Ätherenergie (eine oder mehrere Quellen irdischen Wassers meist heilkräftiger Natur kennzeichnen sie oft in Widerspiegelung ihrer ätherischen Quellnatur). Jedem von ihnen entquillt ein bestimmter Aspekt oder eine Mischung von Aspekten, der universalen Bildekraft, oder anders gesagt, jeder von ihnen ist ein Fenster oder ein Tor zu bestimmten Aspekten der "Imagination Gottes", die hier an diesem Ort in besonderer Intensität gegenwärtig und wirksam sind. Aus diesem Grund wird jeder solcher Orte während seiner aktiven Phase zu einem Schöpfungs- und Geburtszentrum bestimmter geistiger, kultureller und politischer Entwicklungen, die von den Menschen ausgehen, die sich unter dem Einfluß dieses Ortes befinden. Jeder dieser Orte besitzt allerdings seine ihm zugemessene aktive Zeit und nur wenige der vor Jahrhunderten bereits aktiven Zentren sind heute immer noch aktiv.

Die lokalen Strukturen des Ätherfeldes sind nur sehr unzureichend beschrieben durch die heute in der Radiästhesie gebräuchlichen Kennzeichnung (was sicher teilweise von der unzureichenden Öffnung der Wahrnehmung herrührt). Mit den verschiedenen Sorten von Gittern, Streifen und Polaritäten, ja selbst mit Intensitäten und Wellenlängen sind vorzüglich Quantitäten und kaum Qualitäten beschrieben. Hier steht einer Erfassung von tieferen Wesensschichten die allzu starke Anlehnung an technisch-physikalische Vorstellungswelten und das Verharren im Bereich der "Objektivierung" im Wege. Wer es wagt, sich als fühlenden Menschen einzubeziehen, wird mit Gewinn vielfältige Erlebnisqualitäten wie (nur um ein paar willkürliche Beispiele zu nennen) "aufhellend", "dumpf"", aufblühend", "öffnend", "belastet', "verschlossen" oder "fordernd" einbeziehen, um den differenzierten Qualitäten eines lokalen Ätherfeldes näherzukommen.

Traditionelle Architektur an solchen "Orten der Kraft" bezieht sich immer auf die unsichtbare Architektur der ätherischen Vorgänge an dem Ort und die visionäre Schau der dort sich abspielenden dynamischen "architectura caelestis" (Ernst Fuchs). Kirchenbau ist immer verstanden worden als irdische Widerspiegelung des "himmlischen Jerusalem", und dasselbe gilt für den Städtebau der alten Kulturen. Ursprünglich reichte es wohl, unter freiem Himmel die unsichtbare Architektur des Ätherischen zu schauen und sich dazu in Beziehung zu setzen; noch Kelten und Germanen bauten an ihren heiligen Orten keine Gebäude der Gottesverehrung, weil ihnen das natürlich vorhandene Ätherfeld und einige einfachere Vorrichtungen zu seiner Beeinflussung (Menhire etc. ) genügten. Später diente dann die Architektur der Vergegenwärtigung des Ätherischen, wohl auch, weil mehr und mehr die Fähigkeit zu seiner direkten Wahrnehmung nachließ.

Wie stark die sakrale Architektur aller Kulturen auf das Ätherische bezogen ist, kann man an der durchgehenden Wachstums- und Quell- Symbolik ihrer Gebäude sehen; ein Beispiel ist die Pyramide, die, wie z. B. John MICHELL gezeigt hat, den Vorgang der Entfaltung aus einem Samen heraus darstellt.

Die Bauwerke an heiligen Orten paßten sich ein in die lokalen Ätherstrukturen, konnten diese aber auch modifizieren, bestimmte Aspekte verstärken, andere wieder dämpfen - durch ihre Formen und Maßverhältnisse, aber auch durch die verwendeten Materialien. Bestimmte Bauformen und auch Materialien konnten auch bestimmte Stimmungen, Atmosphären erzeugen, bestimmte Energien anziehen oder gar schaffen. Das alles ist noch ein weites Gebiet für eine baubiologische Forschung, die sich, wie ich hoffe, mehr und mehr auch um die über das nur Physikalisch-Materielle am biologischen Bauen Hinausgehende kümmern wird.

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4. DIE GESCHICHTE DER WIEDERENTDECKUNG DER GEOMANTIE
Von MARCO BISCHOF, 1999
Veröffentlicht in "Hagia Chora, Zeitschrift für Geomantie" Ausgaben 7-10

Im Gegensatz zur chinesischen Geomantie kann das, was sich heute bei uns Geomantie nennt, nicht auf eine ungebrochene, heute noch lebendige Tradition verweisen. Durch die Entwicklung der modernen westlichen Kultur ist die Überlieferung geomantischen Wissens bei uns abgebrochen und höchstens noch in verzerrten und degenerierten Überbleibseln vorhanden. Deshalb kommt die Wiederentdeckung der Geomantie der Neuerschaffung einer neuen Geomantie gleich. Sie spielte sich in grossen Zügen in den folgenden Phasen ab, die hier relativ ausführlich geschildert werden, weil der Leser auf diese Weise bereits ein plastisches Bild der vielfältigen Themen und Fragestellungen auf dem multidisziplinären Gebiet der Geomantie erhält.

Die westliche Entdeckung des chinesischen Feng-Shui

Erste Nachrichten über das „Feng Shui“ („Wind und Wasser“), die chinesische Lehre von den feinstofflichen "Ch'i" Strömungen in der Erde, von ihren Wirkungen auf den Menschen und den Methoden, sie zu finden und zu beeinflussen und die menschlichen Bauten an sie anzupassen, gelangten im 16.Jahrhundert nach Europa, als die ersten Jesuiten-Missionare ins Reich der Mitte gingen. Sie waren speziell für ihre astronomoschen und mathenatischen Kenntnisse ausgewählte Gelehrte, deren Wissen den Kaiser beeindrucken und von der Überlegenheit der christlichen Kultur überzeugen sollte. Ihre Nachrichten sammelte und fasste ihr zuhausegebliebener Ordensbruder, der deutsche Spät-Renaissance-Universalgelehrte Athanasius Kircher (1602-1680) in seinem lateinisch geschriebenen Werk „China Monumentis“ (1667) zusammen, der als Missionar abgelehnt worden war. Es ist das erste Werk über die Geographie, Kultur, Geologie, Botanik usw. des Orients; Feng-Shui kommt jedoch nur in verzerrter und bruchstückhafter Form darin vor. In Form einer neuen Ästhetik hatte das Feng-Shui im Rahmen der allgemeinen „Chinoiserie“ der Zeit einen gewissen Einfluss auf die europäische Architektur und Gartenkunst des 17. und 18. Jahrhunderts und führte zum Konzept des „englischen Gartens“. Es ist auch denkbar, dass das Konzept des „Ch’i“ eine gewisse Rolle gespielt hat in den Überlegungen Athanasius Kirchers zum Magnetismus, die einen grossen Einfluss auf Mesmers Entwicklung des „animalen Magnetismus“ hatten.

Doch zu einem tieferen Verständnis der Grundprinzipien des Feng-Shui  kam es erst später. Die ersten detaillierteren Kenntnisse der chinesischen Geomantie verdanken wir christlichen Missionaren der 1870er bis 1890er Jahre, wie Edkins, Eitel, Gray, Genähr, Hubrig und Dore. Die umfassendste Beschreibung des Feng Shui im 19. Jahrhundert findet sich in den Werken "The Religious System of China" (1897) und "Universismus" (1918) des holländischen Sinologen und Ethnographen Johannes Jacobus Maria de Groot (1854-1921), von 1912 bis zu seinem Tod Professor für Sinologie an der Universität Berlin. Interessant ist, dass de Groot im Feng Shui viele Merkmale einer Wissenschaft erkennt, es dann aber wieder als „Afterwissenschaft“ und falsche Wissenschaft“ bezeichnet und in Gegensatz setzt zu einer „gesunden Wissenschaft, die auf wirklicher Naturkunde beruht“ (Universismus, S.383). In „The Religious System of China“ (1892-1910) beurteilt er es als „bloßes Chaos von kindischen Absurditäten und verfeinerten Mystizismus, durch sophistische Argumentation zu einem System zusammengekleistert, welches in Wirklichkeit eine lächerliche Karikatur der Wissenschaft ist“.

Die Haltung, Feng Shui als Aberglauben oder bestenfalls als interessantes soziokulturelles Phänomen zu betrachten, teilten auch Eitel, Dore und viele andere, einschließlich der westlich erzogenen Chinesen; sie hat bis vor kurzem verhindert, dass Feng Shui ernsthaft studiert wurde.

Selbst Joseph Needham, der doch mit seinem Monumentalwerk „Science and Civilisation in China“ zeigen wollte, dass man zu Recht von einer eigenständigen chinesischen Wissenschaft sprechen kann, die bis ins 15. Jahrhundert der europäischen zumindest ebenbürtig, wenn nicht überlegen war, folgte der Beurteilung de Groots und glaubte in diesem Werk Feng Shui als „Pseudowissenschaft“ bezeichnen zu müssen. Auch er, ursprünglich als Naturwissenschaftler in der Entwicklungsbiologie tätig, ging noch zu sehr von einem westlichen (Natur-)Wissenschaftsverständnis aus und glaubte deshalb die chinesischen Wissenschaften in „echte“ und „Pseudowissenschaften“ unterteilen zu müssen. Eine frühe Ausnahme war der deutsche Forschungsreisende Ernst Börschmann, der zwischen 1906 und 1909 China bereiste, besonderes Interesse an den Gründen für die Platzierung der Gebäude entwickelte und sich in seinem Werk "Baukunst und Landschaft in China" (1926) mit den Prinzipien des Feng Shui befasste.

Heute hat sich die Situation jedoch geändert. Westliche und orientalische Beobachter erkennen Feng Shui als wissenschaftliches System, das viel Wertvolles enthält. Eugene N. Anderson zum Beispiel, Professor für Ökologische Anthropologie an der Universität von Kalifornien in Riverside, bewertet in seinem Buch "Ecologies of the Heart" (1996) Feng Shui als „ein System empirischer Beoabachtungen, die gemäss der Kosmologie der Kultur, der es angehört, systematisiert sind; es interpretiert die Erfahrung im Licht dessen, was in dieser Kultur als die allgemeinen Prinzipien des Kosmos gelten“, und das sei schliesslich die Definition einer Wissenschaft. Nach Anderson haben es die Chinesen dank Feng Shui erfolgreich geschafft, Menschen emotional an die Landschaft zu binden und dann diese Bindung und ihre Kosmologie zu benützen, um die Menschen für eine gute ökologische Landnutzung und vernünftige architektonische Prinzipien zu motivieren. Feng Shui verdiene als Modell für neue Wege zur Herstellung einer gesunden ökologischen Beziehung genommen zu werden.

Beginn der Forschungen zu Orientation und Astroarchäologie

Eine große Rolle in der Wiederentdeckung der Geomantie spielten die Erforschung der Orientation oder Orientierung (die Ausrichtung von Bauwerken nach den Himmelsrichtungen) und die Astroarchäologie oder Archäoastronomie (die frühe Geschichte der Astronomie). Die früheste Arbeit über die Orientierung christlicher Kirchen, die wir kennen, findet sich im 1686 erschienenen Buch „Antica Basilicographia“ des Italieners Pompeo Sarnelli. Was die Orientierung vorchristlicher Kultbauten betrifft, so war Stonehenge, der berühmte südenglische Steinkreis auf der Ebene von Salisbury in der Grafschaft Wiltshire, einer der Haupt-Kristallisationspunkte für solche Arbeiten und überhaupt für die Entstehung der Geomantie, und ist es heute noch. Wie wir in John Michells „Sonne, Mond und Sterne“ (1989) lesen können, auf dessen Zusammenfassung sich unsere Schilderung der Geschichte der Astroarchäologie teilweise stützt, hatte bereits 1740 der Engländer William Stukeley,  anglikanischer Pfarrer, Altertumsforscher und Schöpfer eines „Druidenkults“, bemerkt, daß die Achse von Stonehenge nach Nordosten augerichtet war, „wo die Sonne aufgeht, wenn die Tage am längsten sind“. In seinem Werk „Stonehenge – ein den britischen Druiden wiedergegebener Tempel“, zitierte er auch Plutarch und andere Autoren des klassischen Altertums, die die alte Praxis erwähnten, Tempel nach dem Sonnenaufgang am Tag der Grundsteinlegung zu orientieren. Ein Zeitgenosse von Stukeley, John Wood, Architekt in der Tradition des antiken Vitruv, schloß 1747 aus eigenen Vermessungen, in der Struktur von Stonehenge seien verschiedene astronomische Zyklen repräsentiert. Diese Auffassung vertraten auch viele spätere englische Autoren der 2.Hälfte des 18.Jahrhunderts, und zwar auch in Bezug auf andere megalithische Bauwerke (siehe nächsten Abschnitt).

Im Jahre 1858 erschienen zwei frühe Studien des Holländers Alberdingk Thijm. zu „heiligen Linien“ in christlichen Kirchen. Nach Thijm ist die Heilige Linie, d.h. die Ausrichtungslinie der Kirche, „das Rückgrat der kirchlichen Baukunst“. Die ersten exakten und systematischen Studien zur Orientierung von Bauwerken stammen jedoch vom deutschen Archäologen Heinrich Nissen, Professor in Bonn.  Nachdem er sich zunächst in seinem Buch "Das Templum" (1869) mit den geomantischen Praktiken bei Etruskern und Römern beschäftigt hatte, veröffentlichte er 1885 eine Arbeit über die Orientierung ägyptischer und griechischer Bauwerke und 1906-1910 das umfangreiche Werk "Orientation - Studien zur Geschichte der Religion" zur Orientierung von hunderten von griechischen, ägyptischen und anderen Tempeln sowie christlichen Kirchen. Er entlarvte den Mythos, dass Kirchen immer nach Osten orientiert seien, und stellte fest, dass dieselben Prinzipien, die die Orientierung im „heidnischen Altertum“ bestimmten, auch für christliche Kirchen gelten.

Etwa gleichzeitig beschäftigte sich der angesehene englische Astronom und Astrophysiker Sir Norman Lockyer, der Entdecker des Elementes Helium,  mit der astronomischen Ausrichtung von Bauwerken in Ägypten und Griechenland und megalithischen Anlagen im Westen Europas. In der Zeit von 1890 bis 1894 führte er Untersuchungen orientalischer, ägyptischer und griechischer Bauwerke durch, über die er 1894 in seinem Buch „The Dawn of Astronomy“ berichtete. Ab 1901 beschäftigte er sich besonders mit Stonehenge, das er aufgrund seiner Orientierung zu datieren versuchte, und führte 1906 die ersten astronomisch-geodätischen Messungen dieser Anlage durch, die die Vermutungen Stukeleys bestätigten. In den folgenden Jahrzehnten bis zu seinem Tod dehnte Lockyer seine mit grosser Sorgfalt und Genauigkeit ausgeführten Studien auch auf die megalithischen Bauwerke Britanniens, Schottlands und der Bretagne aus.

Lockyers Arbeiten erregten Aufsehen und lösten viele weitere Forschungen in der Richtung aus, wie z.B. diejenigen des französischen Marinekapitäns Alfred Devoir über Steinreihen in der Bretagne (1909) und des britischen Admirals H.B.Somerville über prähistorische Monumente auf den Äusseren Hebriden (1912) und in ganz Großbritannien (1923).  Diese Arbeiten wiederum regten auch deutsche Forscher an, deren Arbeiten über „Heilige Linien“ schließlich zu der unter der Schirmherrschaft der SS-Abteilung „Ahnenerbe“ betriebenen Geomantie (siehe weiter unten) und damit zur Diskreditierung von Geomantie und Astroarchäologie in der Nachkriegszeit führten.

Nachdem seit Kriegsende in der astroarchäologischen Szene absolute Funkstille geherrscht hatte, begann erst wieder im Jahre 1963 eine neue Phase in der Geschichte der Archäoastronomie. In diesem Jahr veröffentlichte der amerikanische Astronom Gerald S. Hawkins, Professor an der Boston University, einen ersten Fachartikel über seine Berechnungen zu Stonehenge. Er hatte – erstmals unter Einsatz des Computers – festgestellt, dass die in der Struktur der Anlage enthaltenen Sichtungslinien präzise auf die Aufgangs- und Untergangspunkte von Sonne und Mond am Horizont zuliefen, so wie diese um 1500 v.Chr. an markanten jahreszeitlichen Daten wie Tagundnachtgleichen und Sonnwenden bestanden hatten. In einem weiteren Fachartikel schlug Hawkins ausserdem vor, die 56 Löcher des grösseren "Aubrey-Kreises" könnten die Funktion gehabt haben, die 56 Jahre des Mondfinsternis-Zyklus zu markieren, der im Laufe von drei nodalen Umdrehungen von je 18,61 Jahren stattfindet.

Diese Befunde, die Hawkins in seinem Buch „Merlin, Märchen und Computer - das Rätsel Stonehenge gelöst?“ (dt. 1983) zusammenfasste, bedeuteten, dass die Erbauer von Stonhenge nicht nur gewußt haben mußten, daß die Erde rund ist und wodurch Sonnenfinsternisse verursacht werden, sondern auch in der Lage waren, ihre astronomischen Kenntnisse aufzuzeichnen und sie so von Generation zu Generation zu überliefern. Das entsprach natürlich nicht dem damals noch vorherrschenden Bild des prähistorischen Menschen als unwissendem Barbaren, und so wurde Hawkins stark unter Beschuss genommen, vor allem von den Vertretern der Archäologie. Ignorieren konnte man ihn nicht, denn das Buch hatte großes Aufsehen erregt und war ungewöhnlich populär geworden. 1966 tobte deswegen in den Seiten der renommierten englischen Fachzeitschrift „Antiquity“ mehrere Monate lang eine Art Wissenschaftskrieg. Der renommierte Archäologe Professor R.J.Atkinson, Autor des archäologischen Standardwerkes über Stonehenge ("Stonehenge". London 1956), der dort schon Lockyers astronomische Datierung von Stonehenge verächtlich abgetan hatte, kritisierte Hawkins in einem satirischen Ton wegen seiner vielen ungenauen Angaben zur Geschichte und Archäologie des Platzes, und behauptete, die angeblichen astronomischen Alignements seien keinswegs statistisch signifikant und somit inexistent. Der berühmte Astronom und Kosmologe Fred Hoyle von der Universität von Cambridge hingegen, der Hawkins Berechnungen geprüft hatte und bestätigen konnte, unterstützte Hawkins und erklärte, die astronomischen Eigenschaften von Stonehenge müßten von seinen Erbauern, von deren hoher Intelligenz er sich beindruckt zeigte, beabsichtigt worden sein.

Den Durchbruch für die Wissenschaft der Archäoastronomie brachte jedoch vor allem die Arbeit des Schotten Alexander Thom, Professor für Ingenieurwissenschaften an der Universität von Oxford, in den 50er bis 70er Jahren. Thom hatte jahrelang genaueste Vermessungen von mehreren hundert Steinkreisen und anderen megalithischen Bauwerken durchgeführt und diese nach strengsten wissenschaftlichen Masstäben statistisch ausgewertet. Die Schlussfolgerungen aus diesen Arbeiten veröffentlichte er u.a. in seinem Buch „Megalithic Sites in Britain“ (1967). Nach seiner Auffassung waren die Steinkreise in Großbritannien Produkte eines Bauprogrammes, das etwa 1850 v.Chr. seinen Höhepunkt erreichte. Sie sind alle nach demselben geometrischen Kanon erreichtet worden, der sehr eng mit demjenigen der Pythagoräer mehr als 1000 Jahre später verwandt ist. Thom fand in ihren Dimensionen eine gemeinsame Grundmasseinheit; er war überzeugt, daß ihre Platzierung und Orientierung durch astronomische Gesichtspunkte bestimmt war und stellte fest, daß die Konstruktionslinien, die ihrer Geometrie zugrunde liegen, oft auf die Auf- und Untergangspunkte von Sonne, Mond und Sternen ausgerichtete Sichtungslinien sind, die gleichzeitig durch bestimmte topographische Kennzeichen, wie z.B. Bergspitzen, markiert sind.

Heute ist allgemein akzeptiert, dass sowohl Stammes- wie auch Hochkulturen aller Kontinente schon seit einigen tausend Jahren systematische astrononomische Beobachtungen und relativ präzise Aufzeichnungen (oft nicht in schriftlicher, sondern in Form von Bauwerken) gemacht haben. Dies geschah durch Beobachtungen von nacktem Auge; eine Methode, die mithilfe von natürlichen Kennzeichen am Horizont und zusätzlichen künstlichen Markierungen durchzuführen war und weltweit verbreitet ist. Ein ausgezeichneter Bericht über die in den 30er Jahren noch lebendige Praxis im Pamir-Hindukusch-Gebiet (Afghanistan, China, Russland) ist das Buch "Zeitrechnung in Nuristan und am Pamir" (1939) von Wolfgang Lentz; über die entsprechende Praxis bei den alten Germanen informiert Otto Sigfrid Reuters "Germanische Himmelskunde" (1934). Wie man sich das konkret vorzustellen hat, hat William H. Calvin in seinem Buch „Wie der Schamane den Mond stahl“ (199x) anschaulich geschildert.

Die Archäoastronomie, die sich mit der vor- und frühgeschichtlichen Astronomie und ihrer religiösen und kulturellen Bedeutung befasst, ist heute, zusammen mit der verwandten Ethnoastronomie, die die Astronomie von „primitiven“ Kulturen studiert, eine anerkannte Wissenschaftsdisziplin. Sie wird an einer Reihe von Universitäten betrieben und es finden regelmäßig wissenschaftliche Kongresse statt. Vor allem ist hier das seit 1978 bestehende, sehr aktive Center for Archaeoastronomy der University von Maryland zu nennen, das auch die Fachzeitschrift „Archaeoastronomy“ herausgibt. Die Archäoastronomie bildet eines der Teilgebiete der Geomantie und hat eine große Bedeutung für diese.

Die britischen Pioniere der Geomantie und die Ley-Linien-Forschung

Bereits vor der eigentlichen Entstehung der modernen Geomantie in den 60er Jahren des 20.Jahrhunderts gab es eine Reihe von Altertumsforschern, die sich mit geomantischen Phänomenen beschäftigten, so auch in England. Nigel Pennick, der Gelehrte unter den englischen Geomantieforschern, hat 1975-1982 in den englischen Archiven und Bibliotheken eine Reihe von vergessenen englischen Pionieren der Geomantie ausgegraben und ihre verstreuten Werke in der Broschüre "British Geomantic Pioneers 1570-1932" (1989) veröffentlicht. Von William Lambarde (1570) bis zu Alfred Watkins (1932) haben sie sich, neben anderen Aspekten der Geomantie, vor allem mit geraden geometrischen Linien beschäftigt, die nach ihren Forschungen das Land zu überziehen und megalithische und andere Stätten miteinander zu verbinden scheinen. Diese geradlinigen „Alignements“ prähistorischer Objekte und Stätten, später „Leylinien“ genannt, standen lange im Mittelpunkt des geomantischen Interesses in Großbritannien.

Lambarde publizierte in seinem Buch „The Perambulation of Kent“ (1570) eine Karte des alten Höhenfeuer-Systems, das früher (nicht nur in England) die Basis des militärischen Warnungs- und Nachrichtensystems gebildet hatte. Er wollte damit für die Wiederherstellung des damals aus dem Gebrauch gekommenen Systems werben. Man griff ihn heftig an wegen Enthüllung von Staatsgeheimnissen, doch erreichte er sein Ziel, und das wiederhergestellte Warnsystem leistete 1588 gute Dienste bei der Abwehr der spanischen Armada. Pennick sah die die ganze Grafschaft Kent durchziehenden geradlinigen Sichtverbindungslinien dieses Systems offenbar als Überrest eines älteren Liniensystems an. Wahrscheinlich die erste Erwähnung eines eigentlichen Alignments war eine Bemerkung von William Chapple im Jahre 1778. In seiner Beschreibung der megalithischen Reste von Drewsteignton wies Chapple darauf hin, daß die Haupt-Steinreihe dieses Monuments auf einen Cromlech in einiger Distanz ausgerichtet ist. Im Druiden-Revival, das anfangs des 19.Jhdts. durch den walisischen Altertumsforscher Edward Williams ausgelöst wurde, der sich Iolo Morgannwg nannte, spielten Alignements von Menhiren und Steinkreisen eine zentrale Rolle; Morgannwg errichtete auch selbst solche Anordnungen wie z.B.auf dem Londoner Primrose Hill, die dann 1911 zu John Nashs gebauten Alignements im Rergents Park führten. Ebenfalls auf die Druiden bezog sich der anglikanische Reverend Edward Duke, der in seinem Buch „The Druid Temples of the County of Wilts“ (1846) von einer 16 Meilen langen, geradlinigen Verbindung zwischen sieben „Druiden-Heiligtümern“, darunter Avebury, Silbury Hill, und Stonehenge berichtete, die nach seiner Ansicht Bezüge zu den sieben Planeten besassen.

Um 1870 gab der Historiker William Henry Black die Entdeckung eines Liniensystems bekannt, das nach seiner Auffassung die alten Gemeindegrenzsteine und andere Grenzmarkierungen des Gebietes von London miteinander verband und im ganzen Land zu finden war. „Es gibt Monumente, die großräumige geometrische Linien markieren, die ganz Westeuropa überziehen. Dieses System ist älter als das römische Reich; es existiert auch in Indien, China und im übrigen Osten, die alle auf dieselbe Art angelegt sind“. Ebenfalls um 1870 untersuchte C.W.Dymond die megalithische Fundstätte von Stanton Drew, einige Kilometer südlich von Bristol in der Grafschaft Somerset gelegen, das mit seinem großen und zwei kleinen Steinkreisen und mehreren einzelnen Menhiren neben Avebury und Stonehenge das drittwichtigste Megalithdenkmal Englands ist. Er stellte fest, daß gerade Linien sowohl die drei Steinkreise und „The Cove“ (der Hain), einen Platz mit drei Menhiren und alten Bäumen, sowie die alte Kirche des Ortes miteinander verbinden, wie auch dieses Ensemble wiederum mit zwei etwas weiter entfernten Megalithplätzen durch Linien verbunden ist. 1904 beschrieb Francis J. Bennett „meridionale Linien“ zwischen Megalithen in der Grafschaft Kent und wies auf die Arbeiten von Duke hin.

1911 berichtete der Oberstleutnant Edwin Kitson Clark, ein Industrieller und Archäologe aus Leeds, über Alignements einer großen Zahl von Tumuli (künstlichen Grabhügeln) und langen, tiefen künstlichen Gräben in Ost-Yorkshire. Er war zu seinen Entdeckungen inspiriert worden durch Arbeiten des dänischen Archäologen Möller, Direktor des Königlichen Museums in Kopenhagen, über ähnliche Alignements in Jütland.

Der Schotte John Fraser befasste sich 1923-24 mit den Megalithen der Orkney-Inseln. Menhire und Steinkreise wie auch Kirchen und Kapellen und einige alte Gräber waren nach seiner Auffassung durch ein System von Linien verbunden, einige von ihnen mit Nord-Süd-Ausrichtung; in ihren gegenseitigen Abständen glaubte er ein Vielfaches bestimmter Masse zu finden. In den 20er und 30er Jahren war Ludovic McLellan Mann aktiv, Direktor einer Versicherungsgesellschaft und angesehener Amateur-Archäologe. Mann hatte schon 1914 vermutet, daß „cairns“ (Steinhaufen), Menhire, Plätze mit Felszeichnungen und auffällige Landschaftsmerkmale Teile eines ausgedehnten Musters bilden könnten. „Sie stehen in exakter geometrischer Beziehung zueinander, was deutlich wird, wenn man Linien zwischen ihnen zieht“. Mann war von der Existenz einer bisher unbekannten prähistorischen Zivilisation mit hoch entwickelten Kenntnissen in Astronomie, Mathematik, Chronologie, Metrologie und Landschaftsvermessung überzeugt. Er hatte die Vision einer eigentlichen „Sakralen Geographie“; mithilfe von großangelegten Erdbauten habe der prähistorische Mensch Abbilder des Himmels in der Landschaft angelegt, so in der Gegend von Glasgow. In „Earliest Glasgow“ (1935) schrieb Mann, „der neolithische Philosoph und Astronom hat die Gegend von Glasgow nach einem Plan angelegt, der einem Uhrenzifferblatt, oder einem gigantischen Spinnenetz gleicht, aber streng geometrisch ist. Die Radiallinien dieses Zifferblattes bilden ein 19-teiliges System und laufen durch Plätze von prähistorischer Bedeutung und mittelalterliche Kirchen und Kapellen“. Hauptlinie des Systems sei die Nord-Süd-Linie. Auf der Ebene von Salisbury, wo auch Stonehenge liegt, glaubte Mann Entsprechungen zwischen der Anordnung von Grabhügeln und bestimmten Sternbildern zu sehen. Lockyers Theorie der astronomischen Ausrichtungen lehnte er hingegen ab.

Herbert Hudson beschäftigte sich in der Zeit von 1932-1947 mit astronomischen Ausrichtungen, meist zu Sonnenaufgangs- und -untergangspunkten, von künstlichen Hügeln (Tumuli) und Grenzsteinen in Norfolk und anderen Grafschaften.

Zum eigentlichen Begründer der "Ley-Linien"-Forschung wurde jedoch anfangs der 20er Jahre der Hereforder Kaufmann und Handlungsreisende Alfred Watkins (1885-1935), ein Mann mit vielen natur- und altertumswissenschaftlichen Interessen. Während die erwähnten Vorgänger längst vergessen waren, wurden seine Vision und seine Forschungsarbeiten zum Kristallisationskeim für die Entstehung der Geomantie. Watkins war bereits 66 Jahre alt, als er 1921, ohne die früheren Theorien über die geraden Linien in der Landschaft zu kennen, per Zufall darauf stiess. Bei einer seiner vielen Geschäftsreisen durch die heimatliche Grafschaft an der Grenze zu Wales,  die er meist zu Pferd unternahm, tat er einen Blick auf die Karte, um sich über Besonderheiten seines Zielortes zu informieren. Dabei bemerkte er, daß eine gerade Linie durch mehrere Hügelkuppen und eine Reihe interessanter Plätze verlief, und daß diese Plätze alle sehr alte Bauwerke aufwiesen. Wie bei vielen Entdeckungen und Erfindungen der Wissenschaftsgeschichte, kam es an diesem Sommernachmittag „wie eine Flut von Urerinnerungen“ über ihn, und in einer „blitzartigen Erleuchtung“ stand mit einem Mal das gesamte Muster jener Vision einer verzauberten Landschaft vor seinem inneren Auge, für die er heute bekannt ist. Die darauf folgenden Jahre der Forschung fügten nur noch Beweismaterial und Einzelheiten hinzu.  Die Vision beinhaltete, in den Worten von John Michell, daß alte heilige Plätze in geraden Linien angeordnet waren, die sich über viele Kilometer hin erstreckten und mit prähistorischen Wegen zusammenfielen, angelegt, als der Mensch seinen Weg durch die Landschaft noch fand, indem er geradeaus von einer Landschaftsmarke zur nächsten reiste. Diese Linien, die Watkins „Leys“ oder „Ley-Linien“ nannte, verbanden Hügelgräber und Steinkreise, Menhire, Steinkreuze und Wegkreuzungen, Brücken und Furten, alte Kirchen und Kapellen, sagenumwobene alte Bäume und heilige Quellen. Oft liefen diese Linien, die Watkins allein aufgrund topographischen Beweismaterials gefunden hatte, außerdem über alte Hochwachten und auf Berggipfel zu, so daß er später zur Überzeugung kam, es müße sich um dasselbe Phänomen wie Lockyers astronomische Alignements handeln. Auch er war davon überzeugt, daß die Gestalt und das Muster der britischen Landschaft nicht allein von den Kräften der Natur geschaffen worden war, sondern vom Menschen in einem viertausendjährigen Prozess gestaltet worden war, auf der Basis des ursprünglichen, von den neolithischen Geomanten angelegten Musters. Vom Moment ihrer Entdeckung an bis zu seinem Tod widmete sich Watkins ausschließlich der Aufgabe, möglichst viele alte Überlieferungen und physische Beweise zur Bestätigung seiner ersten intuitiven Vision zu sammeln. Seine Vision und die Ergebnisse seiner Forschungen veröffentlichte er im Buch „Early British Trackways“ (1922)  und  in seinem Hauptwerk „The Old Straight Track“ (1925) sowie weiteren Publikationen. Watkins‘ Aktivitäten führten in den 30er Jahren dazu, daß „Ley Hunting“ (die Jagd nach Leys) zu einem „neuen Freilufthobby“ wurde, wie es damals in einer Tageszeitung hieß.

Nach Watkins‘ Tod im Jahre 1935 wurde der von ihm 1926 gegründete „Straight Track Club“ zum Focus des „Ley Hunting“. Wegen Überalterung schmolz jedoch die Mitgliedschaft zusehends, und vor allem während des Krieges und in dem darauf folgenden Jahrzehnt gab es keine organisierte Forschung und keinen Focus für Interessierte. Zu einem Neubeginn der geomantischen Aktivitäten kam es erst wieder Anfang der 60er Jahre (siehe weiter unten).

Die deutschen Geomantie-Pioniere und das "Ahnenerbe"

Ähnlich wie in England, so gab es zu Anfang des 20.Jahrhunderts auch in Deutschland frühe Pioniere geomantischer Forschung. Initialzündung war eine umfangreiche Arbeit des Berliner Vermessungsingenieurs Albrecht in der Zeitschrift "Das Weltall", in der dieser 1914-15 Lockyers Stonehenge-Forschungen diskutierte. Sie wurde ihrerseits um 1920 zur Anregung für Pater Johann Leugerings Forschungen zur Geomantie Westfalens. Dieser wendete nach seiner Rückkehr aus russischer Gefangenschaft Albrechts Lockyer-Interpretation auf sein heimatliches Westfalen an und stellte in seinem Buch "Hümling-Emsland" (1936) fest, dass auch dort Alignments heiliger Plätze existierten und meist in bestimmten Abständen voneinander lagen, die ein Vielfaches eines alten germanischen Masses, der Raste (44 km) waren. 1930 fand Herbert Röhrig ein rechtwickliges System von Nord-Süd bzw. Ost-West ausgerichteten „Heiligen Linien durch Ostfriesland“, das Kirchen, Kapellen, alte Kirchhöfe, Klöster und Berge miteinander verband. Eine Art Zentrum dieses Systems bildete ein zu disen Linien diagonal stehendes Kreuz von Linien, dessen Mittelpunkt der berühmte „Upstalsboom“ bei Aurich war. Aus einer langjährigen Zusammenarbeit mit Leugering entstanden dann in den 30er Jahren die Arbeiten des Rechtsanwalts und Regionalplaners Joseph Heinsch, der auf der Grundlage von Forschungen über "heilige" Linien und Hügel in verschiedenen Gegenden Deutschlands, in Chartres, Stonehenge und Palästina eine eigentliche Theorie einer "heiligen Geographie" entwickelte und in einer Reihe von Aufsätzen veröffentlichte. Zum einflussreichsten, aber auch umstrittensten Vertreter der deutschen Geomantie dieser Zeit wurde der ehemalige Pfarrer und Laienarchäologe Wilhelm Teudt. Sein Buch "Germanische Heiligtümer"  verursachte 1929 ein enormes Interesse an geomantischen Zusammenhängen und an "alter germanischer Wissenschaft".

Die weitere Entwicklung der deutschen Geomantie in den 20er, 30er und 40er Jahren ist  vor allem eine deutliche Illustration der Tatsache, daß Geomantie sich für politischen Mißbrauch geradezu anbietet. Die Forschungen von Leugering, Heinsch und Teudt wurden nämlich in der von Hermann Wirth gegründeten Forschungsgesellschaft „Ahnenerbe“ weitergeführt, die dann 1939 in die SS eingegliedert wurde und unter Himmlers persönlicher Leitung tätig war. Sie war auch an den infamen Menschenversuchen in Spitälern, Irrenanstalten und Konzentrationslagern beteiligt. Innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung gab es starke Meinungsverschiedenheiten über die Bedeutung des Okkulten. Himmler und Hess waren sich aber einig darüber, daß die Geomantie, als eine Art politischer Magie, den zentralen Schlüssel  zur Beherrschung der Welt darstelle. Sie strebten eine magische Kontrolle geomantischer Schlüsselplätze an, und zu diesem Zweck wurde vom „Ahnenerbe“ geomantisches Wissen in ganz Europa gesammelt. 1938/39 wurde unter der Leitung des „Ahnenerbe“-Forschers Ernst Schäfer eine große Expedition nach Tibet geschickt, das laut der auch in Nazikreisen einflussreichen Theosophie die „geistige Heimat der großen Meister und okkulten Herren der Welt“ war. Die Teilnehmer des von Göring und Himmler protegierten Unternehmens besuchten die wichtigsten heiligen Stätten im Himalaya und führten auch geomagnetische Messungen durch. „Auf diese Weise wurzelt die gesamte Kenntnis über die erdmagnetischen Verhältnisse des tibetischen Hochlandes auf deutscher Forscherarbeit. Angestrebt und erreicht wurde ein verzweigtes Netz absoluter erdmagnetischer Stationen, die einen gegenseitigen Abstand von etwa 25 bis 40 km haben, während in Nordsikkim sogar eine vollständige flächenhafte Vermessung vorgenommen werden konnte“, heißt es im Expeditionsbericht Schäfers.

Im Auftrag des „Ahnenerbes“ erforschte Kurt Gerlach insbesondere, welche Rolle die „Heiligen Linien“ bei der deutschen Eroberung Böhmens im 10. Jahrhundert gespielt hatten, und dieses Wissen wurde später beim deutschen Vorstoss gegen Russland und den Osten praktisch eingesetzt. Zum Zwecke einer optimalen magischen Ausgangslage für diesen Vorstoss war die „Wolfsschanze“, Hitlers Hauptquartier im Osten, ganz nach geomantischen Gesichtspunkten angelegt, ebenso „Hochwald“, Himmlers Hauptquartier in Ostpreussen. Beide Orte waren durch eine „Heilige Linie“ miteinander verbunden, die nach Gerlachs Forschungen schon dem Deutschritter-Orden im 13. und 14. Jahrhundert bekannt gewesen sein soll, und die weiter nach Moskau verläuft. Nigel Pennick schreibt in seinem Buch „Hitler’s Secret Sciences“ (1981), daß man versucht habe, von diesen Hauptquartieren aus den Feind im Osten magisch zu beeinflussen. Als das Kriegsglück begann, sich gegen die Deutschen zu wenden, wurden solche Aktivitäten intensiviert. 1942 beispielsweise pflanzte eine deutsche Abteilung auf den höchsten Gipfel des Elbrus-Gebirges im Kaukasus die Hakenkreuzfahne. Durch magische Kontrolle über diesen zoroastrischen Weltberg  und zentralen Energiequell Russlands versuchte man, das Kriegsglück noch einmal auf seine Seite zu zwingen.

John Michell hat in "Sonne, Mond und Sterne" auf Ähnlichkeiten, aber auch fundamentale Unterschiede zwischen den beiden fast gleichaltrigen Geomantie-Anregern Teudt und Watkins hingewiesen, deren Entdeckungen über "heilige Linien" und andere geomantische Strukturen so ähnlich sind. Die Arbeit beider wurde unterstützt und nach ihrem Tod weitergeführt durch die Mitglieder eigener geomantischer Klubs. Diejenige des humorlosen Rassenfanatikers Teudt mündete bald in die eng mit der Kulturpolitik des Naziregimes verknüpften Tätigkeit des "Deutschen Ahnenerbes", in dessen Rahmen Forscher wie Gerlach, Röhrig und Hopmann Geomantie betrieben. In England wurde Watkin's "Straight Track Club" durch die von Egerton Sykes 1946 gegründete "Avalon Society" fortgesetzt und führte schliesslich in den frühen sechziger Jahren zum modernen Revival der Geomantie.

UFO’s und Ley-Linien – das Geomantie-Revival in der Jugendkultur der Hippiezeit

Die eigentliche Geburt der modernen Geomantie spielte sich in den frühen sechziger Jahren im Schoß der Jugendkultur der "Hippiezeit" ab. Die Geschichte dieser Schlüsselperiode der Geomantiegeschichte, in der alle für die heutige Entwicklung wichtigen Impulse gelegt wurden, hat Paul Screeton in seinem Buch „Seekers of the Linear Vision“ (1993) dargestellt.  Anfang der 60er Jahre trat eine neue Art von "Ley-Hunters" auf den Plan - nicht mehr alte, verschrobene Gentleman-Forscher, sondern junge Leute. Als Initialzündung gilt die Veröffentlichung der Broschüre "Skyways and Landmarks" von Tony Wedd (1919-1980), in der 1961 Ley-Linien und prähistorische Stätten mit dem Auftreten von UFOs in Verbindung gebracht wurden. Sie lieferte die nötige Inspiration und Motivation für den Neubeginn der geomantischen Bewegung. Das Thema der UFOs war unter dem Begriff „Fliegende Untertassen“ bereits seit 1947 im Umlauf, als der amerikanische Geschäftsmann und Pilot Kenneth Arnold erstmals über Begegnungen mit „unidentifizierten fliegenden Objekten“ – das ist die Bedeutung der englischen Abkürzung UFO – berichtet hatte. 1958 hatte der französische Ingenieur und Parapsychologe Aimé Michel in seinem Buch „Flying Saucers and the Straight Line Mystery“ behauptet, wenn man die UFO-Sichtungen einer beliebigen 24-Stunden-Periode auf einer Karte aufzeichne, erhalte man gerade Linien, die er „Orthotenien“ nannte. Beflügelt von diesem Zusammenhang, gründete nun in England eine kleine Gruppe junger Leute, darunter Philip Heselton und Jimmy Goddard, 1962 den "Ley Hunter's Club" und suchte den Kontakt mit den wenigen Überlebenden des "Straight Track Club". Watkins Sohn Allen war der erste Präsident und hielt beim ersten Treffen des Clubs einen Vortrag über die Forschungen seines Vaters. Im April 1965 wurde die Zeitschrift "The Ley Hunter" gegründet, damals noch mit Wachsmatrizen vervielfältigt. Sie war bis zu ihrer Einstellung im Frühling dieses Jahres die führende Publikation auf dem Gebiet der Geomantie.

Doch erst in den späten 70er Jahren wurde in der angeregten Atmosphäre der Hippiezeit aus dem verschworenen Klub die breite "Earth Mysteries"-Bewegung.

John Michell: Visionäre Grundlegung  der Geomantie

Eine zentrale Rolle spielte dabei der Geometer, Übersetzer und Schriftsteller John Michell, ein liebenswürdiger Mensch, gleichzeitig Exzentriker klassischer britischer Prägung mit aristokratischem Touch, Privatgelehrter und unermüdlicher Protagonist der „Gegenkultur“. Michell, 1933 geboren, war in Eton zur Schule gegangen, hatte in Cambridge studiert, dort in modernen Sprachen abgeschlossen und schließlich seinen Militärdienst als Russisch-Übersetzer in der Royal Navy geleistet. Im Laufe seines Lebens hat er sich, ohne Rücksicht auf deren Popularität und mit Humor und Witz, immer wieder für diese oder jene „gerechte Sache“ eingesetzt – neben den Leys und der Geomantie gehörten dazu der Einsatz für seinen Freund, den Black-Power-Aktivisten Michael Abdul Malik („Michael X“), als dieser wegen einer zweifelhaften Mordanklage in Trinidad gehängt werden sollte, wegen Blasphemie. 1970 gründete Michell das „Anti-Metrication Board“; seinen Kampf gegen die Einführung des metrischen Systems in Großbritannien begründete er damit, dass dieses auf einer ungesunden Philosophie aufbaue, deren soziale Auswirkungen destruktiv seien, während die alten Masse, wie der Fuß und die Elle, sakralen Ursprungs seien und eine Verbindung zwischen Mensch und Universum  herstellen würden.

Michells erste Publikation zum Thema Geomantie erschien 1967 in der bekannten Londoner "Untergrund"-Zeitschrift "International Times". Noch im gleichen Jahr – es war ein Schlüsseljahr in jener Zeit der Bewusstseinsweckung unter jungen Menschen in ganz Europa und Nordamerika, die mit der Erprobung sexueller Freiheit, mit Drogenerfahrungen und der Entdeckung östlicher Religionen und bewusstseinsverändernder Methoden zum ersten Mal eine breite Infragestellung des „modernen“, materialistischen Weltbildes brachte - veröffentlichte Michell sein erstes Buch "Flying Saucer Vision", in dem er Tony Wedds Anregung aufgriff. Es transformierte das UFO-Thema vom Bereich des äußeren Raumes in denjenigen des inneren Raumes und machte den ersten Versuch einer Synthese verschiedener Ansätze. Das Buch enthält eine Ermahnung, die noch heute nicht überholt ist: „Die Tröstungen eines vagen Mystizismus sind unreal“. Während des Jahres 1968 entwickelte er seine Ideen weiter, hielt Vorträge und veröffentlichte Artikel in der alternativen Presse.

1969 schließlich erschien sein Buch "The View over Atlantis", das einen enormen Einfluss haben sollte, zu einem Klassiker der Geomantie wurde und seinen Autor berühmt machte. Die 1983 unter dem Titel "The New View over Atlantis" erschienene revidierte und erweiterte Neufassung wurde vom Autor dieses Berichtes in Deutsche übersetzt und erschien 1984 unter dem Titel "Die Geomantie von Atlantis" bei Dianus-Trikont. In einer umfassenden Synthese brachte Michell darin erstmals chinesisches Feng-Shui, die Ley-Lines, die Traumpfade der australischen Aborigines, europäische Folklore, alchemistische Ideen und alte Maßsysteme zusammen und deutete sie vor dem Hintergrund esoterischer Überlieferungen als Überreste des "globalen geomantischen Systems" eines hypothetischen Urzeit-"Atlantis". Die über die ganze Welt verteilten megalithischen Bauwerke und Erdbauten sind nach Michell ursprünglich Bestandteile eines weltweiten Systems; sie dienten der prähistorischen Technologie jener Zivilisation, die der griechische Philosoph Plato „Atlantis“ genannt hatte. Michell trägt in dem Buch unzählige Hinweise aus der Archäologie, Astronomie, Geologie, Ethnologie, sowie Volkskunde, den Religionswissenschaften und dem Studium der römischen und griechischen Klassiker über die prähistorische Wissenschaft zusammen, die nach seiner Auffassung die Grundlage für diese „spirituelle Technologie“ gebildet hat.  Einen wichtigen Platz in diesem platonischen Konzept nehmen seine Studien über die alten Masse ein,  die sich auch in den prähistorischen Bauwerken finden und nach Michell zeigen, dass den Konstrukteuren dieser Bauwerke die Größe und die Kugelgestalt der Erde bekannt gewesen sein müsse. Als weiteren Teil der traditionellen Wissenschaft behandelt Michell die Kunst der „Geomatria“, die auf einer Entsprechung zwischen den Buchstaben des Alphabets und Zahlen in Sprachen wie dem Arabischen, dem Hebräischen und dem Altgriechischen beruht und so symbolische Entsprechungen und Beziehungen zwischen verschiedenen Wörtern bzw. den durch diese bezeichneten Gegenständen aufdecken kann. Im Zentrum dieser prähistorischen Wissenschaft stand nach Michell die Erkenntnis der Erde als Lebewesen und der Notwendigkeit, die höchsten Interessen der menschlichen Gesellschaft und diejenigen der lebenden Erde in Einklang zu bringen. Dies geschah durch eine „spirituelle Technologie“, die den subtilen Kraftfluss in der Erdoberfläche mithilfe einer Vielzahl von geistigen, rituellen und materiellen Methoden zu kontrollieren und in einer Art alchemistischen „Vermählung“ mit den solaren und kosmischen Kräften zu vereinigen wusste. Diese spirituelle Technologie sei das, was wir heute Geomantie nennen.

Das Buch machte Michell von einem Tag auf den anderen zu einer Kultfigur dessen, was später "New-Age-Bewegung" genannt werden sollte. Seine Vision einer verzauberten Landschaft fiel in der Hippiezeit auf fruchtbaren Boden; durch seinen multidisziplinären Ansatz und seine visionäre Synthese wurde es zur Inspiration in einem Prozess, der in den folgenden zwei Jahrzehnten das Studium der Leylinien zu einem Teil des umfassenderen Gebietes von Geomantie und „Earth Mysteries“ machte. Unter diesem letzten Namen war das Gebiet dann ab etwa 1974 in England bekannt.

In den folgenden Jahren untermauerte Michell seine Rolle als wichtigster Inspirator dieser Gründungsphase der modernen Geomantie durch eine Reihe weiterer Publikationen. In „City of Revelation“ (1972) setzte er seine Ausgrabung verschiedener Aspekte der traditionellen Wissenschaft, mit der Vertiefung einiger der in „The View over Atlantis“ eingeführten Themen wie Sakrale Geometrie, Numerologie, Gematria und "Neues Jerusalem" fort. In dem Büchlein „The Old Stones of the Land’s End“ (1973) berichtete er über eine der ersten statistischen Untersuchungen in der Leylinienforschung, die er anhand einer genauen Untersuchung einiger Ley-Linien in Cornwall (Südwestengland) durchgeführt hatte. Mit dem kurzen Text „The Earth Spirit“ (1975), erschienen in der vorbildlichen, von Jill Purce herausgegebenen Reihe „Art and Imagination“, die reich illustrierte Einführungen zu verschiedenen Themenkomplexen der menschlichen Imagination enthält, und 1981 auch in einer deutsche Ausgabe veröffentlicht, führte er ebenfalls die in „The View over Atlantis“ begonnene Thematik fort. In „Sonne, Mond und Steine“ (dt.1993) stellte er 1976 die Entwicklung der Astroarchäologie von Stukeley im 18.Jhdt. bis zur öffentlichen Anerkennung von Alexander Thoms Arbeit durch den Archäologen Atkinson in den frühen 70er Jahren dar.

1977 veröffentlichte Michell zusammen mit Bob Rickard, dem späteren Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Fortean Times", den Titel „Die Welt steckt voller Wunder - unglaublich, und doch unbestreitbar“ (dt.1979), ein auch finanziell erfolgreiches Buch über ein nur auf den ersten Blick weit von der Geomantie entferntes Thema. Es berichtet in der Tradition Charles Forts (1874-1932) über von der Wissenschaft verdrängte Fakten und Beobachtungen – die Autoren nennen sie „Wunder, die sich wiederholen“: Dinge, die immer wieder vorkommen, in der Presse und teilweise in wissenschaftlichen Veröffentlichungen dokumentiert sind, und doch bis heute unerklärt geblieben sind. Das Spektrum der in dem Buch behandelten 58 Kategorien von seltsamen Rätseln unserer Wirklichkeit (bzw. der menschlichen Wahrnehmung oder Vorstellungskraft) geht von Seeungeheuern wie demjenigen von Loch Ness und anderen seltenen Tieren wie dem Surrey-Puma, den Yetis und Bigfoots, deren Existenz zweifelhaft, aber wegen der wiederholten Beobachtung nicht ausgeschlossen ist, über rätselhafte Regen von Fröschen und diversen unidentifizierten Substanzen, unerklärlichen Fossilien, Phänomenen wie Teleportation und Levitation, spontaner Selbstentzündung und anderen mysteriösen Todesfällen, bis zu elektrisierenden Menschen und Kugelblitzen. Wie man in der Einführung lesen kann, ist das Buch über „Phänomene, die irgendwo zwischen der ‚harten‘ Realität der soliden Objekte und der psychologischen Realität von Träumen liegt“, gedacht als „Einführung in ein erweitertes Weltbild, das, weil es auf beobachteten Phänomenen und nicht auf Theorien beruht, eine vollständigere, praktische und befriedigende Art die Welt zu betrachten ist, als das physikalische Weltbilder der modernen Wissenschaft“.  Diesem Buch folgte 1982 „Das rechnende Pferd von Elberfeld“ (dt.1983) mit ähnlichen Kuriositäten aus der Tierwelt.

„Simulacra – Faces and Figures in Nature“, erschienen 1979, ist eine faszinierende Studie Michells über die „natürliche Funktion des menschlichen Bewusstseins, in Felsen, Steinen, Bäumen, Wolken, Wasserflecken an Wänden etc. Gesichter und andere Figuren zu sehen“.  Nach Michell entspricht dieser menschlichen Neigung eine entsprechende Tendenz in der Natur, immer wieder bestimmte Grundformen zu produzieren.  Wie wir auch in dem Buch "Zahl und Zeit" von Marie-Louise von Franz lesen können, besitzen Natur und menschlicher Geist gemeinsame Grundstrukturen – wenn das nicht der Fall wäre, und wir nicht in den Formen der Aussenwelt etwas wieder erkennen könnten, das uns aus unseren eigenen bewussten oder unbewussten Vorstellungs-, Fühl- und Denkwelten vertraut ist, wäre wohl Erkenntnis überhaupt unmöglich. Nach Plato ist alles Erkennen Wiedererinnern (Anamnesis).

Diese menschliche Tendenz, überall Gesichter und sinnvolle Muster zu sehen, ist auch wichtig für das Verständnis der Geomantie: sie ist Grundlage aller Divinationsmethoden. Wie ich in meinem ersten Buch „Unsere Seele kann fliegen“ (1985) geschrieben habe, spielte das „Gesichtersehen“ beim prähistorischen Menschen vermutlich eine noch viel wichtigere Rolle als bei uns heute. Seine Wahrnehmung ließ den archaischen Menschen ständig überall Gesichter und Gestalten sehen, was die Umwelt lebendig werden ließ und ihr eine traumartige Qualität verlieh. Im Unterschied zu uns heute strebte er auch nicht danach, die Vieldeutigkeit zu vermeiden und zu einer Eindeutigkeit zu gelangen. So ist es zu verstehen, dass die Menschen der Megalithkultur Gesichter und andere Figuren, die sie in den natürlichen Formen von Felsen und Menhiren erblickten, zwar oft mit künstlichen Mitteln hervorhoben, jedoch nie so, dass aus der Vielzahl einander überlagerter und ineinander übergehender Gestalten einzelne auf Kosten anderer unterdrückt wurden. Man wollte die Vieldeutigkeit erhalten.

In „Simulacra“ wies Michell auch auf einen Bericht des französischen Dichters und Erfinders des "Theater der Grausamkeit“, Antonin Artaud, aus dem Jahre 1936 über dessen Reise zu den Tarahumara-Indianern in Mexiko hin. Bei seiner Reise durch das Sierra-Gebirge schien Artaud, dass sich unter dem Einfluss des wechselnden Lichteinfalls bestimmte Bilder, die er in der Landschaft sah, wiederholten, und dass diese Bilder mit den esoterischen Symbolen aller Weltreligionen identisch seien. Er war überzeugt, dass dies kein Zufall sei, sondern eine von den Göttern beabsichtigte Offenbarung in den Formen der Landschaft. Es schien ihm, er habe im Land der Tarahumaras „einen jener sensitiven Punkte der Erde entdeckt, wo das Leben seine ursprünglichste Manifestation zeige, die Sprache der Götter, die sich in der Landschaft manifestierte, lange bevor der Mensch auftrat. Und ihm ging mit einem Mal auf, das auch die Rituale und Tänze der Tarahumaras ein Ausdruck derselben Sprache waren. Wo andere nur ein sinnloses Muster von Felsen und Schatten erblickten, verbargen sich für Artaud in den Felsen der Sierra Symbole einer "vergessenen Wissenschaft", die sich aber nur der poetischen Wahrnehmung eines Artaud, nicht aber dem profanen Geist seiner modernen Zeitgenossen erschließen würden, die ihn bald darauf für verrückt erklärten.

1980 erschien in der deutschen Zeitschrift „Scheidewege“ John Michells Aufsatz „Vorschlag für eine andere Denkart“, der die philosophische Grundlage seines Denkens zeigt. Darin wies er auf die Macht der menschlichen Vorstellungskraft hin, über die Gestaltung unseres Weltbildes unsere Zukunft zu formen.  Es sei, schrieb er, unsere eigene Entscheidung, ob wir durch ein destruktives Weltbild die Vernichtung der Welt unterstützten, wie dies der zurzeit dominierende Mythos tue, oder ob wir eine natürliche Philosophie, eine humane Art und Weise die Welt zu betrachten und zu ihr in Beziehung zu stehen, entwickeln würden, die durch ihr Weltbild positive Auswirkungen zeige. Dem Newtonschen Mythos, der die Welt als grossen Mechanismus betrachtet, stellte Michell den platonischen Mythos der Welt als Lebewesen gegenüber, und betonte, es seien die praktischen Auswirkungen, an denen man ein Weltbild messen müsse. Die Naturwissenschaft könne nicht über die Richtigkeit von Weltbildern entscheiden, bildet doch das jeweils dominierende Weltbild selbst die Grundlage, von der die Naturwissenschaft unbewusst ausgeht. Aus diesem Grund würden Experimente das jeweilige Weltbild naürlich immer bestätigen; würden wir die Welt als Lebewesen sehen, würden Experimente auch das bestätigen.

Deshalb stehe es uns frei, die Welt nach jenem Bilde zu schaffen, das unseren Interessen am besten entspreche. Die Vorstellung eines mechanischen Universums sei eine Weile passend gewesen für eine Zeit, der vor allem daran gelegen war, mechanische Erfindungen zu entwickeln. Heute jedoch müsse man einsehen, dass eine Philosophie, die den fortgesetzten Raubbau an der Erde befürwortet, den menschlichen Interessen entgegengesetzt sei, weil sie die Existenz der lebenden Erde selbst bedroht.

Es gebe nur einen Weg, die bedrohliche Vision einer Zukunft zu vertreiben, in der eine globale Technokratie den Planeten so lange ausplündere, bis er zerstört sei, und sich bereits jetzt darauf vorbereite, die Menschheit (oder zumindest ein paar Auserwählte) in eine künstliche Umwelt, entweder hier oder im Weltraum, zu evakuieren. Dieser Weg sei es, die Quelle der Macht zu zerstören, die das unaufhörliche Wachstum dieser Technokratie nähre – indem man die Mythen zerstöre, die sie unterstützen, und ihnen ein neues, gesunderes Weltbild entgegensetze.

Ein solches alternatives Weltbild sei ein Gleichgewichts-Weltbild, welches versuche, die uns gegebene Natur mit ihren natürlichen und spirituellen Komponenten zu bewahren und zu unterstützen, und den Menschen mit den Lebenskräften des Universums in Kontakt zu halten. Wie schon Plato gezeigt habe, müsse die entsprechende Gesellschaft die Gesamtheit der menschlichen Natur, nicht nur ihren innovativen Aspekt, sondern auch den traditionalistischen, erdverwurzelten Aspekt widerspiegeln, und so zu einer Verlangsamung und Humanisierung der Zivilisation beitragen. Zu einem solchen Weltbild gehöre natürlich eine entsprechende Wissenschaft, die von der gegenwärtigen sehr verschieden sein müsse, da sie andere Ziele haben werde. Eine solche Art von Gleichgewichts-Wissenschaft, deren Zweck es sei, harmonische Beziehungen zwischen Menschen und menschlichen Aktivitäten und der Welt, in der wir leben, zu schaffen, habe es nach übereinstimmenden Zeugnissen aus verschiedenen Kulturen schon einmal gegeben. Sie sei aber wegen ihrer völlig unterschiedlichen Ziele von den modernen Gelehrten missverstanden worden. Nicht Fortschritt sei ihr Ziel gewesen, sondern Kompensation für den Verlust des ursprünglichen idealen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, Kompensation für den Niedergang seit dem „Goldenen Zeitalter“ einer noch jugendlichen Anfangsphase unserer Zivilisation, den Fall aus dem Paradies also. Das chinesische Feng-Shui, und die Geomantie allgemein, sei ein Beispiel für diese traditionelle Wissenschaft, eines ihrer besterhaltenen Relikte und deshalb eine ideale Quelle für ihr Studium. – Nach Michells Auffassung ist Geomantie somit, wie der Titel eines anderen Aufsatzes von Michell besagt,  „die Wissenschaft vom Paradies auf Erden“.

Mit zwei weiteren Büchern hat John Michell in den 90er Jahren seine Vision der Geomantie noch ausgebaut. In „Twelve-Tribe Nations and the Science of Enchanting the Landscape“ (1991) untersuchte er zusammen mit Christine Rhone weltweite Überlieferungen über nach kosmischen Vorbildern organisierte, zwölfstämmige Gesellschaften und ihre Beziehungen zur sakralen Geographie ihres Territoriums. Vom antiken Griechenland über die Etrusker, das alte Israel, die irischen Kelten, das alte Island bis zu Madagaskar, Georgien, Zentralasien und die Südsee findet sich das Phänomen von Kultgemeinschaften (Amphiktyonien) um ein bestimmtes Heiligtum herum, deren Gliederung in 12 Stämme die Einteilung des Himmels in die 12 Tierkreiszeichen bzw. „Himmelshäuser“ sowie eine entsprechende Einteilung des Landes widerspiegelte. Damit verbunden waren, wie Michell und Rhone beschreiben, rituelle, musikalische, mythologische und astronomische Praktiken, durch die diese traditionellen Gesellschaften sich in Harmonie mit Kosmos und Landschaft hielten und so „die Landschaft verzauberten“.

In dem Buch „At the Centre of the World“ (1994) schließlich behandelt Michell die Symbolik des Pols und der Weltmitte, die für die Geomantie so fundamental ist. Aus der Untersuchung der „Weltzentren“ in den altgriechischen, altägyptischen, keltischen, nordischen und anderen Kulturen arbeitet er die geographischen und symbolischen Kriterien für die Bestimmung eines solchen Zentrums heraus und zeigt die geometrischen und mathematischen Prinzipien der traditionellen Wissenschaft auf, die nach seiner Auffassung diesen Kriterien zugrundelagen und in traditioneller Sicht die Entsprechung von Kosmologie, Gesellschaft, individuellem Verhalten und Landschaft bzw. Siedlung garantierten.

Um das Bild von John Michells Persönlichkeit und Werk abzurunden, möchte ich noch zwei seiner Werke erwähnen, die keine Bezüge zur Geomantie haben. In dem Buch "Exzentrische Leben und merkwürdige Angewohnheiten" (1984, dt.1992) erzählt er liebevoll und mit Sympathie und leiser Ironie bizarre Geschichten von Exzentrikern, Träumern und Ketzern sowie von exzentrischen Theorien und Vorstellungen aller Art. Über das Thema eines der Kapitel dieses Buches, nämlich das immer noch ungelöste Rätsel, wer der wirkliche Autor von Shakespeares Werken war, hat er außerdem ein eigenes, wie immer spannendes Buch geschrieben, das im Dezember ebenfalls bei Zweitausendeins auf Deutsch erscheinen soll: "Wer schrieb Shakespeare ?".

Nigel Pennick: Ausgrabung des alten Wissens

Eine nicht minder bedeutsame Rolle bei dieser Grundlegung der Geomantie spielte der Cambridger Mikrobiologe und Privatgelehrte Nigel Pennick (geboren 1946). In seinem angestammten Beruf als Mikrobiologe hatte Pennick bis zur Schließung seines Institutes durch Margaret Thatchers Regierung 26 Fachveröffentlichungen über Meeresalgen verfasst und 8 neue Algen entdeckt. Als Geomantieforscher hat er sich vor allem durch seine sorgfältige Archivarbeit und historischen Recherchen zu den Themen der Geomantie verdient gemacht, mit denen er viel zur Entstehung und Entwicklung der Geomantie beitragen hat. Er hat unzählige alte Quellen aufgestöbert und in seinem "Institute for Geomantic Research" (1975-1983) veröffentlicht. Dazu gehören neben seinen selbstverlegten, vervielfältigten Zeitschriften „Journal of Geomancy“ (1976-78), später „Ancient Mysteries“ genannt (-1981), „The Templar“ (Nr.1, 1982-Nr.5,1983), „The Symbol“ (Nr.1,1983- Nr.5/6,1984) und „The Walrus – the Official Organ of the Nonmaterial World“ (1969 bis mindestens Nr.20,1982), viele weitere selbstverlegte Publikationen über verschiedenste Gebiete der Geomantie sowie seine reiche Buchproduktion. Ohne die von ihm wiederentdeckten deutschen Geomantiepioniere, die er in englischen Übersetzungen zugänglich machte und in seinem Buch „Hitler’s Secret Sciences“ (1981) beschrieb, wüssten wir heute vielleicht auch in Deutschland nichts von Leugering, Heinsch,  Röhrig und Gerlach. Sein Buch "Die Alte Wissenschaft der Geomantie" (1979, dt.1982) wurde ebenfalls zu einem wichtigen Standardwerk der Geomantie. Leider längst vergriffen, ist es mit der großen Zahl der dargestellten Aspekte der Geomantie, seiner reichen Dokumentation und dem ausgewogenen Standpunkt immer noch das beste zusammenfassende Werk zum Thema.

Dem unermüdlichen Forscher und Autor Pennick verdanken wir eine große Zahl weiterer Werke, die für die Geomantie von Bedeutung sind. In „Sacred Geometry“ (1980) untersuchte er die Anwendung der Sakralen Geometrie in der religiösen Architektur, von den Steinkreisen der Megalithkultur bis zu den mittelalterlichen Kathedralen, den Barockkirchen und schließlich den Jugendstilbauten am Anfang unseres Jahrhunderts. 1981 veröffentlichte er „Hitler’s Secret Sciences“, eine der ersten Darstellungen der nationalsozialistischen Aktivitäten im Bereich des Okkulten und auch der Radiästhesie und Geomantie.  Von „Pagan Prophecy and Play“ (1984, deutsch „Brett und Stein und Zauber“, 1986), über das „Kleine Handbuch der angewandten Geomantie“ (1985), bis zu „Einst war uns die Erde heilig“ (1986), „Earth Harmony“ (1987), „Games of the Gods“ (1988, dt. "Spiele der Götter", 1992), „Anima Loci“ (1993), „Heidnisches Europa“ (1995, dt.1997) und „Die heiligen Landschaften der Kelten“ (1996, dt.1998) sind alle lesenswert und aufschlussreich für das Studium der Geomantie.

Earth Mysteries: Geomantie wird zu einer breiten Bewegung

In den 70er Jahren, in der Hochblüte von Popmusik, bewusstseinserweiternden Drogen und neuentdeckten östlichen Religionen, wurde durch die Aktivitäten einer Kerngruppe besonders aktiver Forscher, zu denen neben Michell und Pennick unter anderen auch Paul Devereux, Philip Heselton, Paul Screeton, Anthony Roberts und andere gehörten, durch die Zeitschrift „Ley Hunter“ mit ihren alljährlichen „Ley Hunter Moots“, an denen sich in wechselnden Regionen Grossbritanniens die Geomantie-Enthusiasten trafen, und nicht zuletzt durch die vielen regionalen Geomantiegruppen mit eigenen Zeitschriften, die oft kein sehr langes Leben besassen, die neuentstandene Geomantie in Grossbritannien zu einer breiten „Earth Mysteries“-Bewegung,  die bis heute lebendig geblieben ist. Die ehemalige Abtei Glastonbury in der Grafschaft Somerset mit ihren Klosterruinen und heiligen Quellen und den Turmresten auf dem „Tor“-Hügel, nicht allzuweit von Stonehenge gelegen, wurde u.a. aufgrund von Michells geomantischen Forschungen über ihre Vergangenheit zum zentralen Pilgerort der Bewegung, in dessen Umkreis sich viele Beteiligte ansiedelten und wo 1971 das englische Gegenstück zum berühmten Woodstock-Festival stattfand.

Neue Impulse durch Paul Devereux: die Geomantie verlässt das Gegenkultur-Ghetto und wird wissenschaftlich

In den 80er Jahren begann eine neue Phase in der Geschichte der Geomantie, die sie in zwei gegensätzliche, aber auch komplemenäre Richtungen führte – einerseits breitete sie sich im Zuge der New-Age-Bewegung nach den USA und auf dem europäischen Festland aus;  gleichzeitig schickte sie sich aber auch an, ein wissenschaftlich ernstzunehmendes Gebiet zu werden und damit aus dem gegenkulturellen Ghetto auszubrechen. Was das letztere betrifft, so hatte 1976 mit Paul Devereux ein Geomantieforscher die „Ley Hunter“-Redaktion übernommen, der in den 80er und 90er Jahren der Geomantie wichtige neue Impulse in dieser Richtung geben sollte. Devereux (geboren 1945), ursprünglich Künstler und Kunstdozent, war 1966 bei einem „Ley-Hunter“-Treffen zum erstenmal mit Leys und Orthotenie-Ideen in Kontakt gekommen, und ist seither zu einem der international wichtigsten Geomantie-Autoren mit mehr als 10 Buchveröffentlichungen geworden. Sein Beitrag bestand zunächst vor allem darin, eine gesunde Dosis kritisches Denken einzuführen und zu zeigen, wie die Behauptungen und Hypothesen auf diesem Gebiet überprüft werden können, ohne dass man die ureigensten Anliegen der Geomantie verrät. Da die Leylinien einen so zentralen Platz einnahmen, galt es als erstes die Leylinien-Hypothese zu überprüfen.

Zur Statistik der Leylinien

Die Vorstellung der Leylinien verführt allzu leicht dazu, sich mit einer Karte hinzusetzen und mit dem Lineal beliebige Linien zu ziehen, die man dann womöglich aufs Geratewohl über ganz Europa hin verlängert. Ähnliches wurde ja auch in Deutschland durch Jens Möller und andere gemacht. Entscheidend ist jedoch die Frage, ob Leys reine Zufallslinien oder Überreste von Alignements sind, die von prähistorischen Landvermessern absichtlich angelegt worden sind. Schon Watkins hatte versucht, diese Frage mithilfe der Statistik zu beantworten. Er war in "The Old Straight Track" (1925) zum Schluss gekommen, dass bei 50 prähistorischen Stätten in einem gegebenen Areal eine Linie, die bloss drei von ihnen miteinander verbindet, nicht als statistisch signifikant gelten könne.

Nach einem ersten Ansatz durch Robert Furness (1965) waren statistische Untersuchungen dann vor allem von Robert Forrest und Michael Behrend sowie von Pat Gadsby und Chris Hutton-Squire (1976) durchgeführt worden. Die von Forrest und Behrend entwickelten und im Laufe der Jahre ständig verbesserten Methoden der statistischen Untersuchung von Leylinien sind beschrieben in dem Buch "Leys und lineare Rätsel in der Geomantie" (1991) von Pennick und Devereux. Aufbauend auf diesen Vorarbeiten, erstellte Devereux zusammen mit Ian Thompson in den Jahren 1977-79 aufgrund intensiver und systematischer Feldforschungen an Ort, mit kartographischen Aufnahmen, Photos, und detaillierten Beschreibungen, in ihrem Buch „The Ley Hunter’s Companion“ (1979) eine erste Bestandesaufnahme von 41 Leylinien mit mehr als 220 Plätzen, wie sie schon 1965 vom Ley Hunter’s Club geplant gewesen war, aber nie zustande gekommen war. Die statistischen Untersuchungen dieses Materials ergaben einige wenige Leys, die statisch standhielten, doch die meisten der Leylinien, die ja meist allein aufgrund des Kartenstudiums „entdeckt“ worden waren, stellten sich als reine Zufallslinien heraus.

Die Gefahr, einer Zufallslinie aufzusitzen, ist besonders groß bei den Karten im Maßstab 1:50'000, wie sie in England zu diesem Zweck meist verwendet wurden. Man muss sich die Tatsache in Erinnerung rufen, dass bei diesem Maßstab ein Bleistiftstrich  auf der Karte einen Korridor in der realen Landschaft von mindestens 10 Metern Breite repräsentiert. Eine zusätzliche Quelle der Ungenauigkeit ist, dass die auf den Karten verwendeten Symbole für die prähistorischen Monumente (die offiziellen englischen „Ordnance Survey“-Karten geben die Standorte von Menhiren, Steinkreisen etc. an) oft ein viel größeres Areal repräsentieren als das tatsächliche Monument in der Landschaft einnimmt: ein Symbol von 1 mm Durchmesser repräsentiert 50 Meter Durchmesser im Gelände (Masstab 1:50'000); einige der verwendeten Symbole stehen für Flächen von bis zu 100 m Durchmesser. Eine Gruppe von geradlinig ausgerichteten Karten-Symbolen stellt somit keine Linie dar, sondern eine schmales Rechteck, einen Korridor, dessen Breite Devereux und Thompson die „Ley-Breite“ nennen.

Ein weiterer Punkt betrifft die Länge der Leylinien. Je länger eine hypothetische Linie ist, umso größer ist die statische Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine Zufallslinie handelt. Deshalb beschränkten sich Devereux und Thompson in ihrem Buch auf Linien von durchschnittlich nur 10 Meilen Länge. Für eine solche Beschränkung spricht ja auch, dass der Mensch der Frühzeit mit seiner geomantischen Landschaftsgestaltung vermutlich nicht über das Territorium hinausging, mit dem er vertraut war und das er als seine „Welt“ betrachtete, und das reichte bei vielen stein- und bronzezeitlichen Gesellschaften vermutlich nicht weiter als etwa ein Dutzend Quadratkilometer – jenseits davon begann ein Bereich, der nicht mehr derjenige von „wir Menschen“ war,  sondern als eine Art dämonische Unwelt des „Anderen“ und Nichtmenschlichen betrachtet wurde.

Der Stand der Leylinien-Forschung Ende der 80er Jahre

In dem Buch „Leys und lineare Rätsel in der Geomantie“ (1989, dt.1991) setzte Devereux die Überprüfung der Leylines-Hypothese zusammen mit Nigel Pennick fort. Das Fazit der beiden Autoren war, dass die Argumente der älteren Leyline-Kritiker – z.B. dass die prähistorischen Menschen nicht zur Landvermessung fähig waren, Alignements nicht in vorgeschichtlicher Zeit angelegt worden seien, die alten Wege nicht gerade gewesen seien, und überhaupt die Vorstellung linear ausgerichteter Plätze eine Absurdität sei – in den späten 80er Jahren widerlegt worden seien. Auch die zu der Zeit noch vorgebrachten Einwände ließen sich widerlegen. So wurde z.B. kritisiert, Linien auf Karten könnten nicht mit Linien in der Landschaft übereinstimmen, da Karten flach seien, die Erde dagegen gekrümmt. Dies ist natürlich rein theoretisch richtig, aber bei Linien von weniger als 20 Meilen Länge ergibt sich kein Unterschied. Der Einwand, dass Leys meist Plätze unterschiedlicher historischer Perioden verbinden, wird schon durch die bekannte Praxis neuer Kulturen und Religionen, auf älteren Plätzen zu bauen, entkräftet. Außerdem sind durchaus Linien bekannt, die nur aus chronologisch ähnlichen Plätzen bestehen – so z.B. mehrere von Michells Alignements in Cornwall.

Nach einer Darstellung der Resultate der statistischen Überprüfung in den vergangenen Jahren stellten Devereux und Pennick fest, diese sei positiv zu werten, weil sie die „Ley-Hunter“ (Jäger nach Leylinien) gezwungen habe, präziser und kritischer zu arbeiten. Sie habe jedoch ihre Grenzen und dürfe nicht als Allheilmittel betrachtet werden. Der Stand des Jahres 1989 sei, dass „Ley-Hunting“ als seriöse Forschung eben erst gerade begonnen habe. Es reiche nicht mehr aus, dicke Bleistiftlinien auf kleinmasstäblichen Karten zu ziehen. Präzisions-Kartenarbeit in Kombination mit sorgfältigen Recherchen in Archiven und Feldforschung sei unerlässlich für akzeptable Leylinienforschung. Ein Anzeichen dafür, dass nach einer Periode anfänglicher Widerstände nun die Leylinienforschung zunehmend auch in der Archäologie und Ethnologie Eingang finde, sei die Tatsache, dass der belastete „Ley“-Begriff oft fallengelassen werde und ein wissenschaftlicherer Name wie „Alignement-Forschung“ verwendet werde. Jedenfalls sei das Gebiet im Begriffe, zu einem Faktor im Verstehen prähistorischer Landschaften zu werden, den man nicht mehr ignorieren könne.

Naturwissenschaftliche Aspekte der Geomantie: „Earth Lights“ und das „Dragon Project“

Weitere wichtige Beiträge von Devereux betreffen die naturwissenschaftlichen Aspekte heiliger Orte. 1977 wurde auf seine Anregung hin in London das sogenannte „Dragon Project“ gegründet, um die Frage zu untersuchen, ob in Steinkreisen, Ganggräbern, Dolmen und anderen archäologischen Stätten aus der Stein- und Bronzezeit tatsächlich ungewöhnliche energetische Verhältnisse herrschen. Angenommen, „Erdenergie“ sei eine Art Zusammenwirken verschiedener Formen von elektromagnetischen und anderen physikalischen Energien, die vom Untergrund ausgehen und mit der Strahlung von Sonne und aus dem Kosmos in Wechselwirkung stehen, dann müssten doch diese physikalischen Faktoren, aber auch die Reaktion des Menschen auf sie mit wissenschaftlichen Instrumenten messbar sein. Die Vermutungen und Hinweise über das energetische Geschehen in Steinkreisen und anderen megalithischen Denkmälern sollten aber nicht nur durch physikalische Messungen in England, Wales und Schottland überprüft werden. Ein gleichwertiger Teil des Forschungsprogramms bestand darin, dass Medien, Hellsichtige und Rutengänger auf ihre Art versuchten, Informationen und Eindrücke über die unsichtbaren Vorgänge an diesen prähistorischen Plätzen zu gewinnen, sei es über im Moment aktive Energien oder Präsenzen, sei es über Vorgänge längst vergangener Zeiten. Diese beiden Arten von Informationen sollten schließlich verglichen werden. Der Forschergruppe gehörten mehr als 20 Mitglieder an, unter ihnen der Physikochemiker G.V. (Don) Robins, ein Spezialist für Piezoelektriztät in der archäologischen Forschung, der bis Ende 1986 für die Koordination des physikalischen Programms verantwortlich war, John Steele, ein kalifornischer Archäologe, der das radiästhetische und mediale Programm betreute, Paul Devereux, der für die Gesamtleitung und Finanzierung zuständig war, außerdem Physiker wie Eduardo Balanovsky, Derek Banks, dann Simon Haseler, ein Kodak-Experte für Infrarotphotographie, Elektronik-Ingenieure wie Rodney Hale, der neue Messinstrumente baute, und Rutengänger wie Bill Lewis und Tom Graves, der Kirlian- Forscher Harry Oldfield, sowie Historiker, Volkskunde-Forscher, ein Zoologe, und ein Astrologe.

Leys als „Energielinien“

Während die physikalischen Messungen des "Dragon Projects" den Beweis erbrachten, dass prähistorische Plätze sich in der Tat durch ungewöhnliche Verhältnisse im Bereich verschiedener physikalischer Energien  auszeichnen, beschränkt sich die Verwendung des Begriffes "Energie" im Zusammenhang mit den unsichtbaren Qualitäten von Orten durchaus nicht auf physikalisch Messbares. Das Interesse einer Mehrzahl von Geomantieinteressierten richtet sich im Gegenteil vorwiegend  auf nichtphysikalische "Energien". Viele, die heute neu zum „Ley-Hunting“ oder zur Geomantie dazu stoßen, kennen Leys nur als „Kraftlinien“, vor allem in den Vereinigten Staaten. Die Entwicklung von der Leylinienforschung hin zur umfassenderen Geomantie im New-Age-Zeitalter der 80er Jahre hat dazu geführt, dass viele der neuen Leyhunter nie von Watkins gehört haben und Leylinien, radiästhetische Linien und die russischen „Globalen Gitternetze“ unterschiedslos vermischen. Dieser Entwicklung steht Devereux kritisch gegenüber.

Die Vorstellung von Leylinien als Kraftlinien hat verschiedene Quellen. Eine davon ist möglicherweise der Roman „The Goat-Foot God“ (1936) der englischen Okkultistin Dion Fortune, die in der Ausbildung des Glastonbury-Mythos eine zentrale Rolle gespielt hat. Dort werden Leylinien (ohne dass dieser Begriff erwähnt wird) im Zusammenhang mit der Bestimmung eines geeigneten Platzes für die Anrufung alter heidnischer Gottheiten als „Kraftlinien zwischen Kraftplätzen“  bezeichnet. Fortune hat sich möglicherweise auf das Buch „The Fairy Faith in Celtic Countries“ (1911) des amerikanischen Tibetologen W.Y.Evans-Wentz (1878-1965) bezogen, wo in einer Fußnote ein unbenannter Seher - es handelt sich wahrscheinlich um den irischen Dichter und Theosophen A.E. (G.W.Russell) - zitiert wird, der die irischen „Feenwege“ als  „magnetische Arterien, in denen der Magnetismus der Erde zirkuliert“, bezeichnet. Dieser „Magnetismus der Erde“ dürfte hier allerdings eher im Sinne des Mesmerismus denn als Erdmagnetismus nach geophysikalischem Verständnis aufzufassen sein. Die Assoziation der beiden Arten des „Magnetismus“, die bei Evans-Wentz bzw. AE noch als poetische Analogie gemeint ist, wird in der Esoterikszene in der Regel fälschlicherweise zu einer Gleichsetzung von mesmerischem und physikalischem Magnetismus umgedeutet. 

Leys als Kraftlinien bildeten auch Teil der Visionen und Wahrnehmungen einiger britischer Medien der 30er und 40er Jahre wie John Foster Forbes, Olive Pixley und Iris Campbell, die auf intuitivem Wege versuchten, Informationen darüber zu empfangen, was in früheren Zeiten an den megalithischen Plätzen geschehen war.  Die Psychometrikerin Iris Campbell, die mit Forbes und Pixley zusammengearbeitet hatte und deren Arbeit fortsetzte, hatte eine Vision von geraden Linien, die sich durch die Landschaft vor ihr erstreckten, als sie mit Forbes unterwegs war. Aus der Erinnerung daran schrieb sie später: „Sie erstreckten sich vor mir wie Lichtstrahlen, die von einem zentralen Punkt ausgehen. Ich fühlte, dass sie sehr heilig waren; sie liefen nicht nur über die Erdoberfläche und in sie hinein, sondern auch in die Atmosphäre hinein". Sie war überzeugt, dass diese Linien schon vor der Entstehung der materiellen Erde "in ätherischer Form" existiert hätten.

Natürlich hat auch die Radiästhesie eine Rolle bei der Entstehung dieser Vorstellung gespielt. Der Rutengänger Arthur Lawton, Mitglied von Watkins'„Straight Track Club“, schrieb im Jahre 1939 in seiner Broschüre „Mysteries of Ancient Man“, prähistorische Stätten seien bewusst an Plätzen errichtet worden, die sich durch eine radiästhetisch feststellbare kosmische Kraft auszeichneten. Der Rutengänger Guy Underwood, nach dem prähistorische Plätze immer über sogenannten „blind springs“ („blinde Quellen“) und Kreuzungen unterirdischer Wasserströme liegen, war in den 60er Jahren überzeugt, dass die Megalithbaumeister radiästhetische Methoden angewendet hätten; John Williams, Leylinienforscher und Rutengänger, behauptete, in prähistorischen Alignments fliesse eine radiästhetisch feststellbare Erdenergie.

Besonders aber zeichnete sich dann die Zeit des Geomantie-Revivals anfangs der 60er Jahre mit seiner New-Age-Atmosphäre dadurch aus, dass Leys mit Energielinien gleichgesetzt wurden. Schon damals war das Wort „Energie“ einer der meistgebrauchten (und missbrauchten) Begriffe, wie auch heute wieder in der Esoterikszene. Tony Wedd ging offenbar davon aus, dass Leylinien eine Art magnetischer „Energie-Leitlinien“ für UFO’s waren. Beeinflusst von Underwood und Williams, zementierte dann vor allem John Michell in seinem Buch „Die Geomantie von Atlantis“ (1969) den Zusammenhang zwischen Watkins‘ Leylinien, okkultistischen Kraftlinien, radiästhetischen Linien und UFO-Orthotenien, indem er Evans-Wentz‘ Fussnote aufgriff und ausserdem noch die chinesischen „Drachenpfade“ (lung mei) mit ins Spiel brachte. Die chinesische Geomantie kennt neben den gewöhnlichen, nicht geraden Drachen und Tiger-Strukturen geradlinige, das ganze Land durchziehende „Drachenstrassen“, die nach Michell von einem „Drachenpuls“  erfüllt sind. Der viktorianische China-Missionar E.J.Eitel hatte die Erdströme des Feng Shui mit Magnetismus verglichen; er schrieb in seinem Buch "Feng-Schui oder die Rudimente der Naturwissenschaft in China" (dt.1983): „in der Erdkruste befinden sich zwei verschiedene, ich würde sagen, magnetische Strömungen, die eine männlich, die andere weiblich, die eine positiv, die andere negativ, eine günstig, die andere ungünstig“. Nach Michell „kann es keinen Zweifel daran geben, dass der Drachenstrom sich auf einen natürlichen Kraftfluss bezieht, der mit dem Erdmagnetismus in Zusammenhang steht“. Er bezeichnete auch die prähistorischen Stätten der Erde mit ihren Leylinien-Verbindungen als eine Art von „Erdakupunktursystem“.

Dass Anfang der 70er Jahre die allgemeine Auffassung herrschte, Leylines seien Energielinien, zeigt sich im ersten Satz des Buches „Quicksilver Heritage“ (1974) von Paul Screeton, damals Herausgeber des „Ley Hunter“, wo es heisst: „...Leys, diese Linien feinstofflicher Energie“. Auch Tom Graves, Autor des maßgeblichen englischen Radiästhesiebuches der 70er Jahre, glaubte radiästhetische Kraftlinien zu finden, die über der Erdoberfläche verlaufen und die einzelnen Steine von Steinkreisen mit allein stehenden Menhiren außerhalb des Kreises verbinden oder sich in der umliegenden Landschaft verlieren. Er schlug vor, diese Linien könnten „die nichtphysikalische Realität hinter dem Ley-System“ sein.

Endgültig als Energielinien interpretiert wurden die Leylinien, nachdem sich die Kunde davon Mitte der 70er Jahre in Amerika verbreitet und sich dort eine Verschmelzung der ursprünglichen Ley-Theorie mit englischer und französischer Radiästhesie, deutschen „Gitternetzen“, den russischen "Globalen Gitternetzen" und einer Vielfalt von New-Age-Ideen vollzogen hatte. Nun schwang sich die Phantasie ihrer Vertreter zu bisher ungeahnten Höhen auf. Ende der 70er, anfangs der 80er Jahre wurde dieses Amalgam durch die Welle der New-Age-Workshops dann wieder nach Europa zurückimportiert. Heute kann man, wie Devereux und Pennick in ihrem Buch "Leys und lineare Rätsel in der Geomantie" (dt.1991) schreiben, selbst australische Aborigines, die in westlichen New-Age-Zentren auftreten, den Begriff Leylines so verwenden hören, wie wenn das Konzept schon immer Teil ihrer Kultur gewesen wäre, obwohl sie es in Wirklichkeit in irgendeinem amerikanischen „Spiritual Growth“-Zentrum aufgeschnappt haben.

Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass es heute nicht ungewöhnlich ist, wenn sich Gruppen versammeln, um von bestimmten Plätzen aus „spirituelle Energie in Leylinien hinein zu pumpen“ und so an bestimmte, oft weit entfernte Orte hinzuleiten; solches ist schon wiederholt geschehen, u.a. mit der Vorstellung, man wolle „die Energiesysteme der Welt aufladen und so die Ankunft des Neuen Zeitalters (New Age) beschleunigen“ oder um auf bestimmte Menschen oder Institutionen Einfluss zu nehmen. In Südengland existiert seit 1981 die so genannte „Fountain Group“, deren Hauptinteresse dieser Art von Aktivität gilt. Ihr Initiator, der Geschäftsmann und Rutengänger Colin Bloy, beruft sich auch auf den „Erzdruiden“ des französischen Neo-Druidenordens, Paul Bouchet, der in seinem Buch „Les Druides“  behauptet, ein riesiges System von Energielinien ziehe sich durch ganz Europa.

Nach Paul Devereux sind solche Aktivitäten ethisch äußerst fragwürdig, selbst wenn sie von guten Absichten motiviert sind. Jemanden ohne sein Wissen und sein Einverständnis zu beeinflussen versuchen, sei nichts als schwarze Magie. Ich möchte auf jeden Fall zu bedenken geben, dass man bei dieser Art von Unternehmen (also bei vielen Dingen, die einem so als Möglichkeiten geomantischer Aktivität einfallen) wohl kaum je guten Gewissens behaupten kann, man wisse genau, was man tut – wir stehen bei diesen Dingen noch ganz am Anfang und wissen einfach zu wenig. Vermutlich denken wir auch hier noch zu sehr von unserer modernen Mentalität aus; außerdem vermute ich, daß das in der Esoterik überstrapazierte Konzept der „Energie“ für die meisten dieser Phänomene ohnehin verfehlt ist. Devereux Ansicht ist, daß die Vorstellung von Energielinien möglicherweise in die Irre führt und nicht hilfreich für das Verständnis des Wesens der heiligen Linien ist – außerdem könnten diese Linien ja auch dann eminente Bedeutung besitzen, wenn sie keine Energielinien im konventionellen Sinne wären.

Devereux berichtet, daß er 1976, als er Herausgeber des „Ley Hunter“ wurde, wie alle anderen die Ley-Linien als Energielinien gesehen habe. Doch im Laufe der Jahre sei er skeptisch geworden. Während er weiterhin akzeptierte, dass die Radiästhesie unter bestimmten Umständen und bis zu einem gewissen Grad eine echte Fähigkeit darstellt und dass ein paar wenige Rutengänger tatsächlich natürliche Energien der Umwelt wahrnehmen können, kam er zur Überzeugung, dass die Idee von Energielinien keine Grundlage hatte; es war eine zwar ehrlich geglaubte, aber irrige Vorstellung. Die linearen Muster entstehen nach seiner Überzeugung als mentale Strukturierung der Rutenreaktion (zu einem ähnlichen Schluss war auch der Autor dieses Beitrages in den frühen 80er Jahren gekommen). Bei der Abfassung des Buches „Leys und lineare Rätsel in der Geomantie“ (1989) stellte sich ihm das Dilemma in grösster Schärfe. Wenn die Leys und andere Linien keine Energielinien waren, wovon er seit einigen Jahren überzeugt war, was waren sie dann?

Ein Paradigmenwechsel in der Leylinienforschung: Leys als Geisterwege und Totenstrassen

In der Ausgabe 116 des „Ley Hunter“ (1992) kündigte Paul Devereux schliesslich einen völlig neuen Ansatz im Verständnis der prähistorischen Landschaftslinien, einen eigentlichen  „Paradigmenwechsel in der Leylinien-Forschung“ an, der den Ursprung dieser Phänomene in aller Welt aufklären werde. Nicht um prähistorische Handelswege handle es sich, wie Watkins in den 20er Jahren annahm, und auch nicht um Energielinien, wie sie zur Lieblingsvorstellung der New Age-Bewegung geworden waren, sondern in der während der schamanistischen Trance wahrgenommenen "anderen Realität" sei der Ursprung der Landschaftslinien zu suchen. Da es sich dabei um eine Grundstruktur des menschlichen Erlebens handele, werde dadurch ein transkulturelles Verständnis dieser Linien möglich.

Bereits im Schlusskapitel des Buches „Leys und lineare Rätsel in der Geomantie“ hatte Devereux, noch intuitiv, die Einsicht formuliert, alle die unterschiedlichen Landschaftslinien könnten eine Art von „Geisterlinien“ sein, und ein paar Hinweise darauf angeführt.  Fast unmittelbar nach Erscheinen des Buches publizierte der „Ley Hunter“ dann in den Ausgaben 109 bis 114 (1989-1991) eine Reihe von Artikeln von John Palmer über die mittelalterlichen „Doodwegen“ (Totenwege) in Holland, die schnurgeraden Totenwege, auf denen die Verstorbenen das letzte Stück zum Friedhof getragen wurden, man erinnerte sich an Nachrichten über die geraden „Kultstrassen“ für den rituellen Transport der verstorbenen Wikingerfürsten in Schweden und an indianische gerade Wege in Costa Rica, die zu ähnlichen Zwecken verwendet wurden. Ich selbst hatte bereits 1985 in einem Vortrag am Ethnologischen Serminar der Universität Zürich auf die Totenwege und den „Gratzug“ im schweizerischen Oberwallis, die „Friesenwege“ im Haslital, die von Gotthelf erwähnten geradlinigen, von Berg zu Berg laufenden "Riesenstrassen" im Berner Oberland und die Pfade des „Wüetisheers“ als Indizien für eine "Traumzeit im Alpenraum" hingewiesen. Im gleichen Jahr hatte ich in dem Buch „Unsere Seele kann fliegen“ auf den Zusammenhang zwischen den Nazca-Linien und schamanistischen Ausserkörperlichkeitszuständen hingewiesen.

Devereux‘ Ankündigung im „Ley Hunter“ 116, die von Hinweisen des Deutschen Ulrich Magin auf  „Geisterwege“ im Voigtland und in der Oberpfalz und auf entsprechende Einträge im „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ unterstützt waren, lösten ein großes Echo aus. Sie scheint in vielen Geomantieforschern etwas Tiefes, schon lange auf Auslösung Wartendes berührt zu haben. In den nächsten Nummern des „Ley Hunter“ (117-123) folgten eine Reihe von „Special Sections on Spirit Lines“ mit Beiträgen von Devereux, Palmer, Michell, Magin und weiteren Autoren, begleitet von einer Flut von unterstützenden Hinweisen in Leserbriefen. 1993 veröffentlichte Devereux schliesslich das Buch „Shamanism and the Mystery Lines - Ley Lines, Spirit Paths, Shape-Shifting and Out-of-Body Travel“, in dem er seine neue Hypothese zum schamanistischen Ursprung der Landschaftslinien darlegte.

Devereux‘ Hypothese geht davon aus, dass diese Totenwege und Geisterstrassen, die peruanischen „Ceques“ und die Linien von Nasca, die  britischen „Cursusse“, die jeweils eine Reihe von länglichen Grabhügeln miteinander verbinden, die irischen "Feenpfade", die skandinavischen Kultstrassen, die chinesischen "Drachenpfade" und möglicherweise alle anderen Landschaftslinien auf eine gemeinsame archaische Grundform zurückgehen könnten. Eine Reihe von ähnlichen Konzepten und Motiven in verschiedenen Kulturen und geschichtlichen Perioden legen die Vermutung nahe, dass wir es hier mit einem kulturübergreifenden Phänomen zu tun haben, das seine Wurzeln im Schamanismus des prähistorischen Menschen hat. Die schnurgerade Natur der Linien hat offenbar mit der archaischen Vorstellung zu tun, dass die Geister der Toten sich in Luftlinie durch die Landschaft bewegen. Wenn der Schamane sich mithilfe von Trommeln oder halluzinogenen Pflanzen in einen Zustand der ekstatischen Außerkörperlichkeit versetzt, um die Welten der Geister zu betreten und dort die Ahnen zu treffen, so wird er selbst vorübergehend zu einem „Toten“, der auf seiner „Seelenreise“ in gerader Linie fliegt, . Nach archaischen Vorstellungen erfolgt der Flug der Seele, wie jeder Flug, in gerader Linie – „gerade wie ein Pfeil“, oder wie man in England sagt, „as the crow flies“ (wie die Krähe fliegt); sowohl der Vogel wie auch der Pfeil sind weltweite Symbole für den schamanistischen Flug.

Doch die Geradheit der Landschaftslinien hat noch tiefere Zusammenhänge – mit der Symbolik der Weltachse, die die verschiedenen Welten miteinander verbindet und entlang der der Schamane deshalb reist, und mit der Symbolik von Bewusstheit, Ichhaftigkeit und Herrschaft. Die ersten Könige der Geschichte, die „sakralen Könige“ der Stammes- und frühen Hochkulturen, haben sich aus den Schamanen entwickelt, und so ist die Symbolik der geraden Linie auch aufs innigste mit der Herrschaftssymbolik verbunden.

Geomantie und die Erkenntnisse der Religionswissenschaft

Diese Erkenntnisse Devereux' und anderer Geomantieforscher, die bisher von der hiesigen Geomantieszene kaum zur Kenntnis genommen worden sind, leiten nach meiner Auffassung den Beginn einer völlig neuen Phase der Geomantiegeschichte ein. Sie wird sich voraussichtlich stark von den Ergebnissen der Religionswissenschaften, der Ethnologie und der Bewusstseinsforschung leiten lassen und den Ursprung der Geomantie im besonderen Bewußtseinszustand und der besonderen Wahrnehmungsweise des archaischen Menschen, die sich von unseren heutigen grundlegend unterscheiden, zum Ausgangspunkt des Verständnisses nehmen müßten.

Heute kann man feststellen, wie das die Herausgeber des „Ley Hunter“ im März 1999 getan haben, daß die „Earth Mysteries“, einst Sammelbecken für alle jene, die die Sicht des „Establishments“ in Bezug auf unsere Vorfahren und ihre Kultur nicht teilten, für die Liebhaber alter heiliger Plätze und für diejenigen mit mystischen Neigungen, in einem gewissen Sinne zu existieren aufgehört haben. Das Konzept der Leylinien, einst Initialzündung und alles beherrschende Idee der Bewegung, ist durch die kritische Überprüfung relativiert worden. Es hat jedoch zu einem umfassenderen Konzept der Geomantie geführt, in dem die Eigenschaften des sakralen Raums und die Beziehung zwischen Landschaft und menschlichem Bewusstsein im Mittelpunkt stehen. Diese Dinge, einst von der etablierten Archäologie übersehen oder verspottet, sind heute längst zu akademischen Forschungsthemen in Religionswissenschaft, Archäologie, Ethnologie und weiteren Wissenschaftsdisziplinen geworden und sind somit im Begriffe, vom einstigen Außenseitertum in den wissenschaftlichen „Mainstream“ überzugehen.

Die Anfänge der neuen Geomantie im deutschen Sprachbereich

Soziologisch gesehen, ist die neue Geomantie aus dem Umfeld der gegenkulturellen Bewegungen heraus entstanden. Als Gegenkultur bezeichnet man, wie Eduard Gugenberger und Roman Schweidlenka in ihrem Buch "Mutter Erde, Magie und Politik" (1987) schreiben, das trotz schiefer Bewertungen noch heute eine gute Quelle zur Geschichte der Gegenkulturbewegung in deutschen Sprachgebiet darstellt, die "Bestrebungen, einen dritten Weg jenseits von Kapitalismus und Kommunismus zu entwickeln, als Gegenmodell zur technokratischen und naturentfremdeten Gesellschaft der westlichen Zivilisation mit ihrem mechanistischen, rationalen Weltbild". Viele der gegenkulturellen Bewegungen nach dem Krieg, zu deren Programm neben Protest und Widerstand gegen Umwelt und Lebensqualität zerstörende und demokratiefeindliche Entwicklungen der modernen Gesellschaft auch die Entwicklung von alternativen, naturverbundenen Lebensformen gehörten, entwickelten ein ökologisch-spirituelles Weltbild und begannen sich mit naturnaheren Kulturen wie denjenigen der Indianer, Kelten und Germanen, mit östlichen Religionen sowie mit den esoterischen und okkultistischen Unterströmungen der westlichen Kultur zu beschäftigen.

In Deutschland waren nach dem Krieg Geomantie und andere gegenkulturelle Inhalte zunächst mit einem Tabu belegt. Was die Nazis betrieben hatten, wurde nun per se als verdammenswert und „politisch unkorrekt“ betrachtet und sollte gemieden werden. Wie Jochen Kirchhoff in seinem Buch "Nietzsche, Hitler und die Deutschen" (1990) gezeigt hat, lassen sich ja in der Tat viele Züge des Nationalsozialismus so deuten, dass dieser als eine Art missglückter, pervertierter Versuch zur Entwicklung einer Gegenkultur zur Tradition der Moderne erscheint. 

Vom deutschen Tabu relativ unberührt, wurde die Schweiz bereits seit den 50er Jahren zur Heimat verschiedener Gruppen, die sich mit der Ausgrabung und Wiederbelebung alten Volkswissens und alter Volksbräuche und esoterischer Traditionen beschäftigten. Ihre Beschäftigung mit Überlieferungen über alte Kultstätten und über die seelischen und spirituellen Dimensionen der Landschaft führte bald zum Aufsuchen solcher Plätze, wo man neue Rituale kreierte und durchführte. Anfang der 50er Jahre bestand in Bern ein solcher Kreis um den Wiener Dichter H.C. Artmann, der in die Schweiz gekommen war, um die mystischen Überlieferungen der Alpen zu erforschen. Der Arzt und Schriftsteller Eduard Renner (1891-1952) aus dem Schweizer Bergkanton Uri, der bereits 1937 die medizinische Doktorwürde an der Universität Bern mit einer Dissertation „Über das Magische und Animistische im Erleben und Denken der Urner Bergler“ erworben hatte, veröffentlichte 1941 das epochemachende Buch „Goldener Ring über Uri“ über das magische Weltbild der alpinen Bevölkerung. Wohl davon angezogen, wirkte in den 50er Jahren der polnische Wissenschaftler Georges Stemparski in der Schweiz, dessen Arbeiten zum magischen Bewusstsein der karpatischen Huzulen-Hirten gegenkulturelle Diskussionskreise von Künstlern und Studenten inspirierte. Im Schloss Vallamand am Murtensee existierte 1956 bis 1960 eine „Freie Schule“, in der an einem „neuen Lebensstil“ und an einer „lebendigen Heimatkunde“ gearbeitet wurde, wobei man sich am „Geist unserer Vorfahren“ und an alten Stammeskulturen orientierte.

Der aus diesen Gruppen hervorgegangene Schweizer Schriftsteller und Volkskulturforscher Sergius Golowin (geboren 1930) spielte mit seinem umfangreichen Werk eine bedeutsame Rolle in dieser gegenkulturellen Erneuerungsbewegung, auf deren Boden die moderne Geomantie im deutschen Sprachbereich entstanden ist. In den berühmten Dichterkellern seiner Heimatstadt Bern und während seiner Zeit an der Stadtbibliothek von Burgdorf  bei Bern (1957-68) sowie an den Folkfestivals von Lenzburg, Basel, Ascona-Monte Verita und auf dem Gurten in den Jahren 1976-78 leitete er „Arbeitsgruppen für neue Heimatkunde“ und inspirierte so maßgeblich die neue Besinnung auf die Volkskultur abseits der „herrschenden“ städtischen Hochkultur. Durch seine Bücher und Auftritte an deutschen Folkfestivals und anderen Veranstaltungen wirkte Golowin auch weit über die Schweiz hinaus.

Mit zu der Bewegung, die den Boden für die Entstehung der Geomantie vorzubereiten half, gehörte auch die Schweizer Jugendgruppe „Bärglütli“- der schweizerdeutsche Ausdruck bedeutet „kleine Bergleute“ und bezieht sich auf die im gesamten Alpenraum verbreiteten Sagen von Berg-„Heinzelmännchen“ -, die 1969 von dem jungen anthroposophischen Landwirt Urs Schwarz gegründet wurde und der sich der Autor ein Jahr später anschloss. Sie versuchte als eine der ersten europäischen Gruppen Ökologie mit Spiritualität auf praktisch gelebte Weise zu verbinden und führte 1971, 1972 und 1973 im Oberwalliser Gerental in der Nähe des Furkapasses ein „Camp“ durch (Gugenberger & Schweidlenka nennen es ein „gegenkulturelles Dorf“), in dem sich während dieser drei Jahre, jeweils in den Sommermonaten, Hunderte von Jugendlichen vor allem aus Deutschland, aber auch aus anderen europäischen Ländern, aus den USA, aus Südamerika, Afrika und Asien für kürzere oder längere Zeit aufhielten.

Mit dem Ziel, Jugendliche zur Wiederbesiedelung verlassener Bauernhöfe und Bergdörfer anzuregen und dort neue, „gegenkulturelle“ Lebensformen zu entwickeln, versuchte man sich auf diesem „Camp“ im Überleben in selbstgebauten Steinhütten und Zelten und mit den primitivsten, von Indianern und anderen Kulturen sowie den einheimischen Bergbauern abgeschauten Mitteln und führte Kurse in biologischer Landwirtschaft, Heilkräuterkunde, handwerklichen Fertigkeiten, Yoga und Meditation, Volkskunde usw. durch, an denen sich auch Golowin und viele andere bekannte Persönlichkeiten des kulturellen  „Untergrundes“ beteiligten.

1973 besuchte die deutsche „Indianerfreundin“ Waltraud Wagner zusammen mit dem Hopi-Botschafter James Kootshongsie das Bärglütli-Camp. Das indianische Volk der Hopis, das in Dörfern auf den Mesas (Tafelbergen) in Arizona (im Südwesten der USA) lebt, hat unter den indianischen Nationen Nordamerikas den traditionellen Lebensstil und die erdreligiöse Spiritualität noch am ehesten bewahrt und wird von den anderen Nationen als spirituelle Führer akzeptiert. Wie Gugenberger und Schweidlenka schreiben, wurde es zu einem wesentlichen Vorbild und Impulsgeber für den Trend zu einem spirituellen Naturbewusstsein in den 60er und 70er Jahren. Wie in allen Naturreligionen, so spielen auch bei den Hopis die lebendige Erde und ihre Kraftpunkte ein zentrale Rolle. Sie betrachten ihr Land, das Gebiet der „Four Corners“ auf der Colorado-Hochebene, in Übereinstimmung mit der tibetisch-buddhistischen Tradition als weiblichen, Tibet als den männlichen Pol der Erde. Seine schon damals drohende Zerstörung durch Uranabbau und andere Massnahmen bedeute unser aller Untergang. Kootshongsie, mit dem Auftrag gekommen, nach den gemäß alter Hopi-Prophezeiungen zu diesem Zeitpunkt in Europa entstehenden Sippen junger Menschen zu suchen, die den Hopi-„Weg des Friedens“ beschreiten wollten, ermunterte die Bärglütli, nicht Indianer zu imitieren, sondern ihre eigenen kulturellen Wurzeln zu suchen.

Von den Bärglütli-Camps und den von dort ausgehenden Gruppen, die sich in den folgenden Jahren in verschiedenen Schweizer Bergtälern niederließen, gingen starke Anregungen zur Beschäftigung mit alten Kultplätzen auf das ganze deutsche Sprachgebiet aus. Unabhängig davon entstanden in den 70er Jahren eine Anzahl von weiteren Gruppierungen und Intitativen mit ähnlichen Vorstellungen und Zielen.

Waltraud Wagner, Fachhochschuldozentin für Chemie der Baustoffe, wurde in den folgenden Jahren zu einer der wichtigsten Pionierinnen der Geomantie im deutschen Sprachbereich. Sie war 1968 nach Amerika gereist, um sich bei den Indianern umzusehen, startete anschließend erste Solidaritäts- und Unterstützungsaktionen für Indianer und gründete den „Rundbrief Indianer Heute“. In einer Reihe von Publikationen setzte sie sich mit dem indianischen Zeitverständnis, ihrem Verhältnis zum Grundbesitz, ihrem Verhalten und generell mit dem indianischen Weltbild auseinander und konfrontierte es mit westeuropäischer Weltanschauung und Verhalten. Daraus ging als logische Folge eine Beschäftigung mit biologischem Bauen, mit Geomantie und alten Maßsystemen hervor, denen sie weitere Publikationen widmete. Waltraud Wagner organisierte auch eine Reihe von ersten Geomantie-Treffen, für die sie erstmals John Michell und Nigel Pennick nach Deutschland und mit deutschsprachigen Gesprächspartnern zusammenbrachte.

Viele ihrer Veröffentlichungen erschienen im Mutter-Erde- (später Neue-Erde-)Verlag ihres Schwiegersohnes Andreas Lentz, der als einer der ersten deutschen Verlage Bücher und Broschüren zur Geomantie und zu verwandten Gebieten im Programm hatte. Zusammen mit ihm setzte sich Waltraud Wagner auch mit dem Werk des Ahnenerbe-Gründers Herman Wirth auseinander, dessen umfangreiches Buch „Die Heilige Urschrift der Menschheit“ Lentz in den 70er Jahren 10 Bänden neu auflegte. Auch der von Lentz geleitete "Arbeitskreis für Ur-Sinnbild-Forschung" mit Sitz in Frauenberg bei Marburg pflegte und erforschte das Erbe Wirths. Der holländische Volkskundler, Germanist und Historiker Herman Wirth (1885-1981), ab 1916 Professor für niederländische Philologie an der Berliner Universität, hatte 1935 das "Ahnenerbe" gegründet, verlor jedoch bald seinen Einfluss darauf und wurde 1938 bei dessen Übernahme durch die SS ausgeschlossen. Er verfasste eine Reihe von bahnbrechenden paläo-epigraphischen Arbeiten wie "Der Aufgang der Menschheit" (1928) und das bereits erwähnte Buch „Die Heilige Urschrift der Menschheit“ (1931-36), in denen er die Entwicklung der Symbolsysteme zu rekonstruieren versuchte, die die Vorläufer der heutigen Schriftsysteme bildeten. Er vertrat ähnlich wie der indische Politiker und Vedenforscher Bal Gangadhar Tilak und später der Ethnologe Werner Müller die Auffassung, daß die europäische genauso wie die indianische und asiatische Kultur auf eine zirkumpolare Urkultur an einem einst eisfreien Nordpol zurückgehe, die frauenrechtliche Züge trug. Trotz seiner Überwertung des "Nordischen" und vielen allzu spekulativen Elementen sind seine Forschungen zur "Ur-Geistesgeschichte" durchaus noch heute einer Auseinandersetzung wert.

Als Schweizer Pioniere der geomantischen Forschung sind der Geologe Ulrich Büchi und seine Frau Greti zu erwähnen, die seit mindestens Mitte der 70er Jahre an der Erforschung der Megalithe der Surselva in Graubünden mit ihren astronomischen und kultischen Bezügen arbeiteten und eine große Zahl von Publikationen über ihre Forschungen veröffentlichten. Auf dem Gebiet der Archäoastronomie machte sich auch der Physiker und Amateur-Astronom Hans Weber verdient, der das Phänomen des "Martinslochs" im Glarner Bergdorf Elm astronomisch erforschte. Ähnlich wie an anderen Orten im Alpenraum scheint hier mit grosser Präzision jeweils frühmorgens an bestimmten Tagen im Frühjahr und Herbst eine Lichtstrahl durch ein Felsentor im Berggrat direkt auf den Turm der Dorfkirche. Mit diesen und anderen geomantischen Phänomenen beschäftigte sich auch der lockere Kreis der Schweizer "Schalensteinfreunde", die sich in unregelmässigen Abständen zu Ausflügen an geomantisch bedeutsamen Plätzen trafen.

In Deutschland war ebenfalls seit den 70er Jahren die "Arbeitsgemeinschaft für Ortungskunde" unter der Leitung von Kurt E.Kocher tätig, die sich als eine der ersten Gruppen mit Orientierungsfragen und anderen geomantischen Fragestellungen beschäftigte und ein Mitteilungsblatt und verschiedene Broschüren und Bücher herausgab. Mit geomantischen Themen beschäftigt sich auch der noch heute bestehende "Arbeits- und Forschungskreis Walther Machalett", dessen Gründung ebenfalls in die 70er Jahre zurückgeht und der jedes Jahr eine Tagung in Horn-Bad Meinberg bei den Externsteinen veranstaltet.

Die vermutlich allererste Buchpublikation über Geomantie in deutscher Sprache, ein schmaler Band, dessen voller Titel "Geomantie oder die alte Kunst, Energiezentren auf der Erdoberfläche auszumachen, sowie die künstliche Veränderung der Landschaft, um ihre geometrische Verbindung mit anderen Zentren auszudrücken" (1976) gleich die Definition der Geomantie liefert, wurde jedoch von Werner Pieper verlegt, der nach Gugenberger & Schweidlenka mit seinem "Grüne Kraft"-Verlag „einer der allerersten kräftigen Impulsgeber für die Indianer- und Urkulturrezeption“ war. Er war vermutlich für die Einführung des Begriffs „Grün“ für Ökologie verantwortlich, publizierte in seinem Verlag 1973 das erste deutschsprachige Buch über Indianer und brachte in seinen Zeitschriften „Kompost“, „Humus“ und anderen Publikationen schon sehr früh das Thema Geomantie zur Sprache.

Nach dieser Vorbereitungsphase wurden jedoch vor allem die frühen 80er Jahre zur entscheidenden Zeit für die Entstehung der Geomantie im deutschsprachigen Bereich. Einen wichtigen Impuls gaben eine Reihe von Konferenzen über Schamanismus, die 1982-84 in dem bereits zuvor als Tagungsort der wissenschaftlichen "Alpbacher Gespräche" bekannt gewordenen Tiroler Bergdorf Alpbach stattfanden, und vom „Forum International“ in Freiburg organisiert wurden.  Gugenberger und Schweidlenka werteten sie als Zeichen, dass „die Mutter-Erde-Spiritualität nun das gegenkulturelle Ghetto verlassen hat“. Nach seiner Wende von einer linksanarchistischen Ausrichtung zu Ökospiritualität, Ethnologie, Esoterik und „Neue Wissenschaft“ um 1980 spielte auch der Münchner Dianus-Trikont-Verlag, geleitet von Herbert Röttgen und Christiane Singer Gräfin Thurn-Valsassina, dabei eine wichtige Rolle. 1982 brachte er die deutsche Übersetzung von Nigel Pennicks Buch „Die alte Wissenschaft der Geomantie“ heraus. Im Oktober 1983 veranstaltete Dianus-Trikont im Schloss Ottenstein im Waldviertel (Niederösterreich) den ersten Geomantie-Kongress im deutschen Sprachbereich, Ende August/Anfang September 1984 organisierte er den Kongress „Keltisches Bewusstsein“ im Kloster Zwettl, ebenfalls im Waldviertel, wo der Autor die Geomantie der Kelten zur Sprache brachte, und 1985 veröffentlichte Dianus-Trikont die vom Autor erstellte deutsche Übersetzung von John Michells Buch „Die Geomantie von Atlantis“. Im gleichen Jahr erschien auch mein Buch „Unsere Seele kann fliegen“ in der Schweiz, das eine Reihe von Texten zur Geomantie und verwandten Themen enthält.

Für die Anfang der 80er Jahre gegründete "Kosmosophische Gesellschaft" in Karlsruhe unter Leitung des Mikrobiologen Jens Möller wurde die Beschäftigung mit der freimaurerischen Entstehungsgeschichte der Stadt Karlsruhe zum Anlass zur Beschäftigung mit der Geomantie; sie veranstaltete 1983 einen ersten Geomantie-Kongress und begann 1984 mit der Herausgabe der "Zeitschrift für Komosophie". 1982 erhielt der österreichische Architekt Jörg Purner (geb. 1944) an der Universität Innsbruck den Titel eines Doktors der Technischen Wissenschaften für seine Dissertation über "Radiästhetische Intersuchungen an Kirchen und Kultstätten". Der slowenische Bildhauer, Land-Art-  und Konzeptkünstler Marko Pogacnik (geb. 1944), der bereits seit 1979 Landschaftsskulpturen und Projekte zur "Erdheilung" verwirklicht hatte, wurde Mitte der 80er Jahre durch sein Projekt zur "Heilung" des Schlossparks Türnich bei Köln und seine Publikationen zur Geomantie Venedigs und Istriens bekannt. Neben neuen esoterischen Zeitschriften wie dem "Magazin 2000" begannen sich in dieser Zeit auch eine Reihe von Zeitschriften der gegenkulturellen Presse, wie "Sphinx-Magazin", "Zero", "Hologramm", "Middle Earth" und "Narachan", die teilweise schon seit Ende der 70er Jahre erschienen, mit geomantischen Fragen zu befassen.

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre setzte dann eine breitere Beschäftigung mit Geomantie ein, und Anfang der 90er Jahre ergriff der Künstler und Geomant Hans-Jörg Müller, Vertreter der zweiten Generation deutscher Geomantieforscher, die Initiative um die nun auf diesem Gebiete Tätigen miteinander ins Gespräch zu bringen. In einem ersten Gesprächskreis wurde die Idee einer Geomantieausbildung diskutiert, motiviert durch die Erkenntnis, dass das Gebiet der Geomantie bis dahin unvollständig und auf Teilbereiche reduziert gelehrt worden war. Zur Begründung einer Geomantie im wahren Sinne dieses Begriffs sei es nötig, alles zu sammeln, was zu den verschiedenen Aspekten dieses Gebietes bekannt ist, es zu strukturieren und in einen sinnvollen Zusammenhang zu stellen.

1993 erarbeiteten Hans-Jörg Müller und der Landschaftsplaner Stefan Brönnle ein Ausbildungskonzept und nahmen mit einem weiteren Kreis von Personen Kontakt auf, die einen Namen in der Geomantie hatten, um sie als Dozenten zu gewinnen. Die Ausbildung sollte auf dem Konzept einer interdisziplinär verstandenen Geomantie aufbauen und sollte fundierte Grundkenntnisse in den zahlreichen Teildisziplinen, aber auch die philosophisch-geistigen Grundlagen der Geomantie vermitteln. In möglichst großer Offenheit und Toleranz sollten die unterschiedlichen Auffassungen und methodischen Ansätze der verschiedenen Schulen sich darstellen können, so dass die Kursteilnehmer sich selbst ihr Urteil bilden und den von ihnen bevorzugten Weg wählen können.

Im September 1993 fand in dem nach geomantischen Prinzipien gebauten Tagungshaus „Lichtung“ des österreichischen Architekten Georg Thurn-Valsassina im niederösterreichischen Waldviertel ein erstes Treffen der Organisatoren mit den angefragten Dozenten statt. Auch ein Name für die geplante Geomantie-Ausbildung war gefunden: „Hagia Chora“, was im klassischen Griechisch „Heilige Landschaft“ bedeutet. Im Mai 1994 ging eine erste Informationsveranstaltung zur Geomantieausbildung im Schloss Gnadenthal bei Kleve über die Bühne. Das Interesse für die Ausbildung war so groß, dass schon zur Informationsveranstaltung nur 100 der 170 Interessenten zugelassen werden konnten. Die berufsbegleitende Ausbildung begann im darauf folgenden Juni mit 42 Teilnehmern und erstreckte sich bis November 1997. Aus der Veranstaltung in Schloss Gnadenthal ging auch der von Günter Bolze gegründete "Freundeskreis für Geomantie" hervor, der regelmäßige Tagungen und Treffen veranstaltet und einen Rundbrief herausgibt.

Obwohl die Veranstalter eigentlich nach Abschluss dieser Ausbildung keine Fortsetzung geplant hatten, beschloss der Kreis der Ausbildungsdozenten im Dezember 1994 die Gründung einer „Schule für Geomantie“, die unterschiedliche Kursformate, von Einführungs- und Basiskursen bis zu Einzelseminaren, Seminarreihen, Vorträgen und Tagungen anbieten sollte und so Interessenten ein flexibles, individuell zusammenstellbares Modulsystem anbieten sollte. Nach einer Eröffnungsveranstaltung im Juli 1995 in Bamberg nahm sie im August 1995 unter der Leitung von Hans-Jörg Müller, Stefan Brönnle, Birgit Tali, Johanna Markl und Richard Hornig ihren Betrieb auf und bietet seither jedes Jahr mit grossem Erfolg ein neues, umfangreiches Programm an. (Hans-Jörg Müller, Johanna Markl und Birgit Tali sind seither wieder aus der Schulleitung ausgeschieden).. Dozenten der Schule sind u.a. Mary Bauermeister, Marco Bischof, Wolf-Dieter Blank, Stefan Brönnle, Helmut Christof, Hans Cousto, Paul Devereux, Dr.Erwin Frohmann, Herbert Gradl, Prof. Eike Georg Hensch, Ya-Tsung Huang, Harald Jordan, Dr.Manfred Kubny, Hartmut Lüdeling, Johanna Markl, Hans-Jörg Müller, Marko Pogacnik, Elvira Recke, Silvia Reichert, Günter Sator, Stephan Schmidt, Peter F.Strauss und Georg Thurn-Valsassina.

In den letzten Jahren sind weitere Ausbildungsstätten entstanden, und vor allem die jüngste Feng-Shui-Welle hat die Anzahl der Institute, Vereine und Ausbildungsstätten auf dem Gebiet der Geomantie stark vermehrt.

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5. Landschaftsarchetypen und Weltreligionen von Stefan Brönnle

Wie beeinflusst die Landschaft bzw. der ihr innewohnende Genius Loci eine größere Bevölkerungsgruppe, einen Stamm, ein ganzes Volk? Die Lebensbedingungen auf der Erde weisen deutlich nachvollziehbare Auswirkungen auf das gesellschaftliche und religiöse Denken der Völker auf. Der folgende Text beleuchtet einige erstaunliche Zusammenhänge.

Der Genius Loci ist DER zentrale Begriff der Geomantie. Was ist die Eigenart eines Ortes? Worin unterscheidet er sich - nicht nur auf einer ästhetischen, sondern v.a. auf einer geistig-seelischen ebene - von einem anderen Ort? Und vor allem: Was ist die Ursache dieser unterschiedlichen Atmosphären? Dies sind die zentralen Fragen, denen man sich beständig in der Geomantie ausgesetzt sieht.

Dass der Ort, der umgebende Raum, die Landschaft seelisch wirksam sind, steht außer Frage. So sind Völker, die über Generationen hinweg an einem Ort lebten, in ihren Eigenarten und religiösen Riten von der sie umgebenden Landschaft beeinflußt. Die Erde zeigt deutlichen Einfluß auf die Art und Weise der Religionsausübung. Ja, es gibt sogar ein Gebiet auf der erde, in dem nahezu "alle" großen Religionen ihren Ausgangspunkt nahmen. Dieses Gebiet ist als die "Zone der Religionsstifter" bekannt und liegt zwischen dem 25. und 35. Grad nördlicher Breite. Aus den Steppen- und Wüstenlandschaften dieses Raumes sind die drei großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, weiterhin der Parsismus und der Manichäismus hervorgegangen und aus den iranischen Hochlandsteppen der Geist der indischen Vedas. Hinduismus, Buddhismus, Taoismus und Schintoismus besitzen ihre Wurzeln in dem jenem Steppengürtel benachbarten Monsungebiet. Was die starke spirituelle Disposition der Gegend hervorruft, ist bislang noch unbekannt, man kann darüber nur spekulieren. Vielleicht liegt dieser Raum ganz einfach am "spirituellen Herzen" von Mutter Erde besteht der alte Glaube schon seit Vitruvius und Proclus, daß die Kräfte der Natur, die die Landschaft formen, auf ähnliche Weise die Charaktere der Einwohner formen. Auch die Australischen Aborigines glauben, man könne sich keinen fremden Boden aneignen; denn dort leben fremde Ahnengeister, die sich in den eigenen Neugeborenen inkarnieren würden.

Die Tatsache, daß die Landschaft den Charakter und auch die Spiritualität eines Volkes beeinflußt, zeigt schon der Vergleich des Alpenraumes mit der Norddeutschen Tiefebene. Während sich im Gebirge der an Riten und Heiligen reiche Katholizismus behaupten konnte, fiel Norddeutschland dem nüchternen Protestantismus zu.

C.G.Jung machte die Erfahrung, daß der geschilderte Glauben der Aborigines durchaus eine psychologische Wahrheit beinhaltet. Er fand heraus, daß bei den Amerikanern bei tiefgehender Analyse Symbole aus dem kollektiven Unbewußten auftauchen, die indianischen Ursprungs sind. Eine genetische Vererbung erscheint wegen der geringen Vermischung der Einwanderer mit den Indianern nicht wahrscheinlich. So deutete Jung das Land selbst als Überträger der indianischen Archetypen. Wenn das stimmt, dann müßten sich die Ausbreitungsräume der verschiedenen Religionen mit bestimmten Landschaftsräumen decken.

Tatsächlich ist eine überraschende Übereinstimmung zwischen den Vegetationszonen und der Verbreitung der Religionen festzustellen: Der Islam hält sich in seiner Verbreitung an Wüsten, Halbwüsten und Steppen. Der Hinduismus deckt sich mit der Zone halbimmergrüner und regengrüner Wälder; die schamanischen Naturreligionen Nordasiens sind an die boreale Nadelwaldzone und teilweise an die Tundra gebunden. Ähnlich sieht es mit den Naturreligionen Nordamerikas aus. Auch die Naturreligionen Afrikas halten sich an die Wälder. Die Verbreitung des Lamaismus wiederum korreliert mit den Steppen und Halbwüsten Asiens und tritt damit in Konkurrenz zum Islam. Der Konfuzianismus ist geprägt von den feuchten warmtemperierten und nemoralen Wäldern Ostasiens. Das Christentum hingegen erscheint als eine landschaftlich ungebundene - entortete - Religion, die nichtsdestotrotz von der Landschaft beeinflußt wurde. Anders wäre eine weltweite Verbreitung des Christentums auch gar nicht möglich gewesen. Aber auch das Christentum variiert in seinen Ausprägungen, je nach landschaftlichem Chrakter. Interessant erscheint auch der Schwerpunkt der Mormonen in Nordamerika. Er überlappt sich mit dem dortigen Wüstengebiet um Saltlake City. Die Mormonen kamen vom Osten der USA in das Gebiet um den Salzsee und nahmen hier, einmalig in der Religionsgeschichte der letzten Jahrhunderte, ein bis dahin völlig unbesiedeltes Gebiet in Besitz. Interessanterweise propagieren die Mormonen, wie die Moslems, die Polygamie.

Wie ist eine solche Übereinstimmung zu erklären? Der Architekt Christian Norberg-Schulz vertritt in seinem Buch "Genius Loci" die These der "Landschaftsarchetypen", die die Verteilung der Religionen erklären kann.

Der erste Archetyp ist die romantische Landschaft. Wir finden ihn in den nordischen Wäldern Skandinaviens. Der Boden zeigt sich als ein vielfältiges Mosaik unterschiedlichen Reliefs. Die Bäume, Ausdruck der Erdhaftigkeit, überragen den Betrachter bei weitem, so daß nicht nur der Blick in der Horizontalen eingeschränkt wird, sondern auch vom Himmel meist nur ein kleiner Ausschnitt zu sehen ist, selten wird er als Gewölbe erfahren. Der Mensch ist in dieser Landschaft ganz eingebunden in die Natur, sie gibt ihm Schutz und Geborgenheit. Doch auf der anderen Seite strahlt die Sonne schräg herein. Die Bäume werfen lange, sich ständig verändernde Schatten, so daß der Mensch die Welt als sich ständig verändernd und unbegreiflich erlebt. Sie ist geprägt durch eine grenzenlose Vielfalt unterschiedlicher Orte. Hier entstehen die Sagen von Gnomen, Zwergen, Riesen und Trollen.

Der Gegenpol ist die kosmische Landschaft. Prototyp ist die Wüste. Die endlose Weite des dürren Bodens steht der riesigen Himmelskuppel gegenüber. Die Erde tritt völlig zurück, die Landschaft ist ganz Himmel und wird als einziger Ort erfahren. Die Sonne beschreibt einen beinahe exakten Meridian und teilt den Himmel in Mitternacht und Mittag. Dies findet in der Dualität von Gut und Böse der monotheistischen Religionen seinen Ausdruck. Die Sonne, das maskuline Gestirn, prägt den Himmel, wie der Vatergott Islam und Judentum. Der Himmel ist allgegenwärtig wie der Vater im Himmel. Im Islam findet das im "la ilaha illallah!", im "es ist kein Gott außer Gott!" einen Höhepunkt. In dieser klaren, eindeutigen Landschaft wird Gott als einzig erfahren, eindeutig scheidend zwischen Gut und Böse.

Erinnert sei auch an die Sternenkulte der Ägypter! In den "kosmischen Landschaften" der Trockensteppen Westasiens herrschte die Vorschriftenverkultung wie in den Gesetzesreligionen Israels und des Islams vor, während es in den "romantischen Landschaften" der Monsunländer zur Bilderverkultung kam. Das Wort Gottes ist in der Wüste Gesetz und "Du sollst dir kein Bild von Gott machen". Die Arier, aus den Steppen des südlichen Zentralasiens kommend, stellten ebenso vaterrechtlich organisierte Sippenverbände dar. Die Steppen und Wüsten brachten bevorzugt Sternenkulte hervor, fruchtbare Landschaften dagegen örtlich gebundene Kulte. In kühlen Gegenden wurde die Sonne, in heißen eher das Wasser zum Gegenstand der Verehrung.

Zwischen diesen zwei Polen sieht Norberg-Schulz in der klassischen Landschaft Griechenlands eine Mitte. Hier erfährt der Mensch sich selbst und beginnt über den Menschen nachzudenken - Die Geburtsstätte der antiken Philosophie ist hier zu suchen. Das Menschliche wird zur MITTE zweier Extreme. Doch bleiben wir bei den beiden Polen: Wie erwähnt, zeigt auch das Christentum Beeinflussungen durch die Landschaft. In Deutschland entdeckt man, daß die nüchterne, rationalistische protestantische Lehre ihren Schwerpunkt in der ernsteren, flacheren, eher "kosmisch" orientierten Landschaft Norddeutschlands fand. Der Süden zeigte dagegen eher eine Affinität zum romantischen, barocken Katholizismus mit seinen vielen Heiligen und gefühlsbetonten Zeremonien. Auch in prächristlicher Zeit scheint eine ähnliche Aufteilung präsent gewesen zu sein: Im Norden lebten Stämme, die sich der Viehzucht zuwandten und männliche Gottheiten wie den immer siegreichen Odin oder Wotan verehrten. Die ackerbauenden Stämme im Süden dagegen verehrten weibliche Gottheiten, und noch heute ist der Madonnenkult in Bayern besonders stark ausgebildet. Denn was der Alpenbewohner in der Landschaft erfährt, ist die ihn allseits umgebende Magna Mater, die Große Mutter, die im Christentum zur Maria mit dem Schutzmantel wurde.

Neben der topographischen Ebene ist aber auch die Farbigkeit einer Landschaft von starker seelischer Wirksamkeit. Auch die in den Religionen vorherrschenden Kultfarben sind durch das Klima und die dadurch erzeugte Landschaftsfarbe, in denen eine Religion entstand geprägt. Die Kultfarbe Grün - als Farbe der Pflanzen ist sie Sinnfarbe für wiedererwachendes Leben und Wachstum - findet so viel eher und stärker in den jahreszeitlich kalten oder trockenen Ländern mit Laubfall Verwendung. Hier tritt sie in farbigen Gegensatz zu sonst steppenhafter Umgebung. Aber auch in den Wüstenregionen, wo die Vegetation völlig in den Hintergrund tritt, wird sie zur heiligen Farbe. In Altägypten galten grüne Dinge als segensreich, im Gegensatz zur dort eher gemiedenen roten Farbe. Der Islam hat Grün zu seiner Hauptfarbe gewählt. Grün ist die Fahre des Propheten. Viel weniger dagegen findet das Grün in den ohnehin immergrünen Regionen als Kultfarbe Verwendung.

Wie aber nun ist die Wirkweise der Landschaft, des Raumes auf unsere Seele? Um diese zu verstehen, ist es nötig, zunächst zu betrachten, was da in der Landschaft auf die Psyche des Menschen einwirkt. Im Wesentlichen sind es vier Faktoren, Faktoren, die wir als die vier Elemente kennen: Das Licht (Element Feuer) mit seinen Folgeerscheinungen Farben und Kontraste, die Formen und Maße der Landschaft (Element Erde), die Bewegung der Landschaft (Element Luft) und schließlich die Geräusche (Element Wasser). Diese vier Elemente sind es, die unmittelbar auf die Seele wirken, oder andersherum: Die Seele des Ortes zum Ausdruck bringen. Betrachten wir sie im Einzelnen.

Das Licht - Element Feuer:

Dem Licht kommt ein wesentlicher Anteil an der psychischen Wirkung des Ortes auf den Menschen zu. Der Mensch braucht das Licht zum Leben, ohne Licht wird er krank. In erster Linie wirkt das licht durch die Farben. Eine Farbe entsteht dadurch, daß aus dem weißen Sonnenlicht, das alle Farbschwingunegn enthält, alle Anteile bis auf einen herausgefiltert werden. So bedingt die höhere Konzentration an Staubteilchen in der Luft der Städte eine Streuung des Sonnenlichts. Dabei werden vermehrt die blauen und ultravioletten Anteile herausgestreut. Übrig bleiben die gelbroten bis ultraroten Anteile. Rot aber wirkt im Gegensatz zum herausgefilterten Blau psychisch erregend. Umgekehrt sind gerade Blau und Grün die beiden in der freien Natur vorherrschenden Farben. Ihnen folgen das Weiß der Winterlandschaft und Grautöne, wie sie in Gewässern, Bergen, Wüsten bis hin zum bedeckten Himmel auftreten können. Während im Blau und Grün in ihrer beruhigenden Wirkung ein lustvoller Gefühlston mitschwingt, wirkt das Grau eher bedrückend.1 Vielleicht ist es gerade diese unheilvolle Kombination von erregenden Rotanteilen des lichtes und dem Betongrau der Straßen und Häuser, die die Hektik der Städte bei gleichzeitig lähmender Erschöpfung mit hervorruft.

Verständlich werden jetzt auch die verschiedenen Stimmungen, die die unterschiedlichen Landschaften erzeugen, je nachdem, welche Farben vorherrschen: Grün und Blau beruhigen, Weiß steigert positive und negative Stimmungen, Braun hemmt die Gefühlsbewegungen, während Rot und Gelb eher erregen. Die Leserin oder der Leser achte doch einmal beim nächsten Sonntagsspaziergang auf die vorherrschenden Farben der sie oder ihn umgebenden Landschaft und wie jeweils die eigene Gemütslage ist. Sie werden erkennen: Das Gelb der Rapsfelder, das Weiß der Winterlandschaft, das Blau des Meeres oder das Grün des Waldes beeinflussen den Genius nachhaltig.

Interessant ist ferner, daß die Abfolge der meist vorherrschenden Farbnuancen in der Landschaft sowohl im Tages- wie im Jahreslauf dem Farbkreis folgen: Das frische Grün des Aufbrechenden Frühlings (Morgen) wird gefolgt durch das farbig erregte aufbrechen der Blüten und prächtige Blüten am Vormittag und Mittag, bzw. Spätfrühling und Sommer, wobei die Farbverschiebung deutlich wahrnehmbar mit der Zeit zu den Rottönen wechselt, die dann im Herbst v.a. erkennbar werden. Aber auch im Tageslauf kann durch das Untergehen der sonne, das Rot prägend werden. Nach Sonnenuntergang, in der Phase der Dämmerung dann werden häufig Violett-Töne offenbar - der Farbe der Passion und des Übergangs. So überrascht es nicht, dass das Auftreten dieser Seltenen atmosphärischen Farbe vor allem im Oktober/November zu beobachten ist. So geht die Farbigkeit schließlich in tiefe Blau der Nacht über, bzw. den Blautönen des Eises im Winter, bzw. der einzig neben dem Weiß noch wirksamen Farbigkeit des Himmels.

Die Farbwirkung einer Landschaft ist allerdings in viel stärkerem Maß von den Farbbeziehungen als vom absoluten Farbton abhängig. So rufen Buntheit und Glanz lustvoller Erregtheit hervor, ebenso aber auch der schlichte Hell-Dunkel-Kontrast, der sich im hügeligen bis bergigen Gelände und im Wechselspiel von Wald, Flur und Baumgruppen als besonders vielfältig zeigt. Schwindende Hell-Dunkel-Kontraste wie in der Dämmerung aber, darauf wies schon der Psychologe Willi Hellpach hin, rufen eher Unbehagen, ja Grauen her vor (man sagt nicht umsonst: "Es graut mir" und verweist damit spontan auf die zugrundeliegende Farbigkeit), wie es sich in vielen Gespenstergeschichten niederschlägt. Die Formenverschleierung und -verzerrung der Nacht tun das Übrige.

Die Formen und Maße - Element Erde:

Das Element Erde drückt sich in der Landschaft durch Formen und Maße aus. Bergbewohner empfinden die Ebene in ihrer Grenzenlosigkeit oft als schwermütig, während umgekehrt Flachlandbewohner Gebirge oft als bedrückend empfinden. Hierin zeigen sich die Wirkungen der Formen. Generell kann man sagen, daß alle einfachen Linien, wie Kämme, der Horizont der ebene, Wasserläufe (besonders Kanäle), Stratuswolken und Flächen beruhigend wirken, wohingegen das Bergland in seiner Formenvielfalt mit Flächen, Wellen, zacken, spitzen, Erhöhungen und Vertiefungen etc. ununterbrochen Abwechslung bieten.

Während die Farben stark das persönliche Unbewußte ansprechen, wirken sich Form und Maß viel stärker auf das Naturerleben ganzer Völker, also auf das so genannte kollektive Unbewußte aus, wie die obigen Ausführungen über die Landschaftsarchetypen zeigten.

Hinzu kommt, daß der Mensch stets bemüht ist, in Formen Dinge oder gestalten zu erkennen, die ihm bekannt sind. In der Vielfalt der Formen des Gebirges tritt dem menschlichen Auge entgegen, was es "sehen will": Tiere, Menschen, Pflanzen, Riesen, Zwerge oder Götter. Von daher erscheinen die Gebirge oft viel sagenreicher als weite Ebenen. Viele Namen in bizarren Landschaften verraten den mythischen Charakter dieser Gegenden: Drachenfels und Zwergenloch, Watzmann oder Hexental und viele andere.

Abhänge und mächtige Bäume haben dagegen etwas Überwältigendes für die menschliche Seele, das die eigene Kleinheit vor der Größe des Schöpfergottes betont.

Die Bewegung in der Landschaft - Element Luft

Dem Element Luft entspricht in der Landschaft die Bewegung. Das Luftelement steht für den Raum und seine Überbrückung durch Kommunikation und Bewegung. Auch die Landschaft verhält sich niemals regungslos. Wolken ziehen vorüber, der Wind biegt die Bäume oder bringt nur die Blätter zum tanzen, das Getreidefeld wogt in gleichmäßigen Wellen, und das Wasser kräuselt, wogt, fällt oder springt. Diese äußere Bewegung setzt sich in innere Bewegung um. Das eben erwähnte gleichmäßig rhythmische Wogen des Getreidefeldes beruhigt beim Betrachten, wohingegen wildbewegtes Meer tief erregen kann. Zwei Haupteigenschaften bestimmen dabei die Wirkungsart: Die Geschwindigkeit und die Gerichtetheit der Bewegung. Langsamkeit und Gleichmaß beruhigen, Schnelligkeit und Richtungsvielfalt erregen bis zum Streß. Es ist auffällig, daß sich die Bewegung in der Landschaft so oft in der Dichtung niederschlägt. Neben dem Element Luft, das das Denken zu berühren scheint, hat nur das Wasser einen solch starken Einfluß auf die Poesie.

Die Geräusche - Element Wasser

Das vierte Element ist das Wasser. In der Natur finden wir es in den Geräuschen wieder. Das mag zunächst unverständlich erscheinen, doch schon Rudolf Steiner unterschied vier verschiedene Äther, die den 4 Elementen entsprechen. Dem Wasserelement ordnete er den "Klangäther" zu. Und auch in der mittelalterlichen Medizin wurde das "Wasserorgan" der Nieren als mit den Ohren in Verbindung stehend erkannt.

Mit dem Element Wasser treffen wir auf das Element, das unsere Seele, unseren emotionalen Zustand am stärksten berührt. In der Romantik galt tonlose Natur als tote Natur. Tonlose Natur erscheint und unheimlich. Geräusche gehören wie die visuellen reize zur Landschaft dazu. Neben die Geräusche der Tiere (Quaken, Röhren, Summen, Zwitschern) treten die der "unbelebten" Natur (Brandungsrauschen, Windsausen, Regenplätschern, Blätterrascheln). Die meisten klanglichen Erlebnisse haben etwas Beruhigendes in ihrer Wirkung, das sich bis zur Bewußtseinsleere steigern kann, die gerade für das religiöse Erlebnis besonders wichtig wird. Es erscheint mir eine traurige Symptomatik zu sein, daß wir heute in abgeschlossenen Räumen und mit Kopfhörern bestückt auf den digitalisierten Klang von Naturgeräuschen meditieren.....

So berührt das Feuer (Licht) unser gemüht, die erde (Formen und Maße) unser kollektives unbewußtes und damit unsere Traditionen und Sagen, die Luft (Bewegung) unser denken und das Wasser (Klang) unsere Seele.

Hierin erkennen wir die vier Wirkebenen des Genius Loci, sie sind der Ausdruck seines Charakters, sein kosmischer Atem. So erkennen wir, dass Landschaftsatmosphäre und Seelenerleben im Grunde eins sind. Sie gehören zusammen wie Animus und Anima.

 

Dieser Artikel enthält Auszüge aus dem Buch “Landschaften der Seele” von Stefan Brönnle, erschienen im Schirner Verlag.

Weitere Informationen auf den Websites des Autors:

www.stefan-broennle.de und www.inana.info

 

6. Literaturhinweise & Links
Naturreligion & Mythen, Geomantie & Kraftorte:

Manfred Ehmer: Die Weisheit des Westens – Mensch, Mythos und Geschichte

Stefan Brönnle: Das Haus als Spiegel der Seele

Petra Gehringer: Geomantie – Wege zur Ganzheit von Mensch und Erde

Reinhard Habeck: Geheimnisvolles Österreich

Richard Jones: Mystisches England und Irland

Goldmann / Wermusch: Vineta – Wiederentdeckung der versunkenen Stadt

Heide Göttner-Abendroth: Mythologische Landschaft Deutschland

Adolphe Landspurg: Orte der Kraft – Schwarzwald und Vogesen

Hrsg. Thomas Lehner: Keltisches Bewusstsein

Gisela Graichen: Das Kultplatzbuch – Führer zu den alten Heiligtümern und Kultstätten in Deutschland

Johannes Kaul: Kleiner Führer durch den Druidenhain (fränk. Schweiz)

Oswald Tränkenschuh: Begleiter zu den alten Kraftorten / und weitere

Georg Schmidt-Abels: Geheimnisvoller Breisgau

David Luczyn: Magisch Reisen Deutschland – Wo die Seele Kraft tankt

Clemens Zerling: Götter-, Götzen- und Gralstempel

Günter Harnisch: Orte der Kraft

Erdogan Erciran: Verbotene Ägyptologie

Erich von Däniken: Erinnerungen an die Zukunft / Meine Welt in Bildern / und weitere

Jean Markale: Die Druiden

Martin Freksa: Das verlorene Atlantis

R. Derolez: Götter und Mythen der Germanen

Bauval / Hancock: Der Schlüssel der Sphinx

Walter Beltz: Gott und die Götter

Rudolf Pörtner: Bevor die Römer kamen

John Haywood: Die Zeit der Kelten

Marko Pogacnik: Die Erde Heilen / Die Landschaft der Göttin / Elementarwesen / Schule der Geomantie / und weitere

Hug. Brian Fagan: Die 70 großen Geheimnisse der Alten Kulturen

Paul Devereux: Der heilige Ort – Vom Naturtempel zum Sakralbau

Heinrich Schreiber: Feen in Europa – Historisch-archäologische Monographie

Günther Kehnscherper: Hünengrab und Bannkreis

Jonas / Fester: Kinder der Höhle – Die steinzeitliche Prägung des Menschen

Jean Markale: Die Druiden – Gesellschaft und Götter der Kelten

Hagia Chora - Journal Forum für Geomantie  www.geomantie.net

www.hagia-chora.org

www.geomantie.org

www.puramaryam.de/kraftort.html

www.kraftorte.spiritvoices.de

www.geomantie.de

www.fengshui-geo.de

www.ourvitalworld.de

 

 

 

 

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